Parlament und Volksversammlung <span class="pagenumber">[107]</span>

199 Mit dem Wahlgesetz vom 26. 1. 1907, durch das in der österreichischen Reichshälfte das allgemeine, direkte, gleiche und freie Wahlrecht für Männer eingeführt wurde, musste sich die Parteienlandschaft in Österreich stark verändern. Begünstigt wurden nun jene Parteien, die auf einen Massenanhang setzten, bzw. die es am besten verstanden, ihr Wahlprogramm zu vermitteln, während Parteien, die bislang die Interessen der Besitzenden, der Honoratioren oder der politischen Minderheiten vertreten hatten, in die Defensive gedrängt wurden. Die Wahl vom 24. 5. 1907 wurde zu einem »politischen Erdrutsch«. Die Christlichsoziale Partei um Karl Lueger konnte die Zahl ihrer Abgeordneten von 25 (1901) auf 65 (1907) steigern; der christlichsozialkatholisch-konservative Block, dem die Partei angehörte, bildete mit 96 Abgeordneten die stärkste Fraktion im Reichsrat. Andere Gewinner waren die deutschen und tschechischen Sozialdemokraten und die polnischen und jungruthenischen Nationaldemokraten, während die Deutsche Volkspartei, die Deutschnationalen, die Jungtschechen und die polnischen Konservativen zu den klaren Verlierern zählten. Ohne die rhetorische Begabung Luegers wäre dieser Erfolg der Christlichsozialen unmöglich gewesen. Wie es Lueger gelang, die sozialen Grenzen zwischen sich und seinen Zuhörern zu nivellieren, hat der Schriftsteller Felix Salten 1909 eindrucksvoll geschildert: »Er, ein Gebildeter, ein Doktor, ein Advokat, zerfetzt die Ärzte, zerreißt die Advokaten, beschimpft die Professoren, verspottet die Wissenschaft; er gibt alles preis, was die Menge einschüchtert und beengt, er schleudert es hin, trampelt lachend darauf herum, und die Schuster, die Schneider, die Kutscher, die Gemüsekrämer, die Budiker jauchzen, rasen, glauben das Zeitalter sei angebrochen, das da verheißen ward mit den Worten: selig sind die Armen am Geiste.« Solche Erlebnisse schienen Hitler in der Überzeugung zu bestätigen, dass sich der politische Diskurs aus dem Parlament in den öffentlichen Raum verlagert hatte und dass Argument und Vernunft dem Gefühl und Effekt gewichen seien. Es war daher durchaus konsequent, wenn auch Hitlers erste Redeauftritte in Bierkellern, Gasthäusern und Zirkuszelten stattfanden.

Vgl. Salten, Antlitz, S. 132 f.; Sutter, Reichsrat, bes.S. 72 – 78; Hamann, Wien, S. 169 – 174, 407 – 410, Zitat S. 169; Rumpler, Parlament, S. 881 – 885; Kap. I/2, Anm. 170; Kap. I/3, Anm. 17.

nahme an diesem Unsinn war nur der Niederschlag allgemeiner, unklarer Vorstellungen über die Bedeutung und die Wirkung einer solchen eigenen Beteiligung an der im Prinzip ja schon als# 1937: gestrichen: als; 1944: wieder eingefügt: als falsch erkannten Einrichtung. Im allgemeinen erhoffte man sich wohl eine Erleichterung der Aufklärung breiterer Volksmassen, indem man ja nun vor dem »Forum der ganzen Nation« zu sprechen Gelegenheit bekam. Auch schien es einzuleuchten, daß der Angriff an der Wurzel des Übels erfolgreicher sein müsse als das Anstürmen von außen. Durch den Schutz der Immunität glaubte man die Sicherheit des einzelnen Vorkämpfers gestärkt, so daß die Kraft des Angriffes# 1937: Angriffes ersetzt durch: Angriffs;
1939: Angriffes sich dadurch nur erhöhen konnte.

In der Wirklichkeit allerdings# 1944: allerdings ersetzt durch: natürlich kamen die Dinge wesentlich anders.

Das Forum, vor dem nun# 1926: gestrichen: nun die alldeutschen Abgeordneten sprachen, war nicht größer, sondern eher kleiner geworden; denn# 1944: gestrichen: denn es spricht jeder nur vor dem Kreis, der ihn zu hören vermag, oder der durch die Berichte der Presse eine Wiedergabe des Gesprochenen erhält.

Das größte unmittelbare Forum an# 1939: an ersetzt durch: von;
1944: an Zuhörern stellt nun# 1926: gestrichen: nun aber nicht der Hörsaal eines Parlamentes# 1939: Parlamentes ersetzt durch: Parlaments dar, sondern die große öffentliche Volksversammlung.199

Denn in ihr befinden sich Tausende von Menschen, die nur gekommen sind, um zu vernehmen, was der Redner ihnen zu sagen habe, während im Sitzungssaal# 1937: Sitzungssaal ersetzt durch: Sitzungssaale des Abgeordnetenhauses nur wenige hundert sind, zumeist auch nur da, um Diäten in Empfang zu nehmen, keineswegs, um etwa die Weisheit des einen oder anderen Herrn »Volksvertreters« in sich hineinleuchten zu lassen.

Vor allem aber:

Es ist dies ja immer das gleiche Publikum, das niemals mehr etwas hinzulernen wird, da ihm hiezu# 1926: hiezu ersetzt durch: hierzu;
1944: gestrichen: hierzu außer dem Verstande ja auch der hierzu nötige, wenn auch noch so bescheidene Wille fehlt.

Niemals wird einer dieser Volksvertreter von sich aus der besseren Wahrheit die Ehre geben, um sich dann auch in ihren Dienst zu stellen.

Nein, dies wird nicht ein einziger tun, außer er hat Grund, zu hoffen, durch eine solche Wendung sein Mandat für eine weitere