Der Mehrheitswille <span class="pagenumber">[90]</span>

125 Beim Schlagwort der »germanischen Demokratie« handelt es sich um einen vermutlich von Hitler geprägten Begriff. Obwohl er ihn hier als Komplementärbegriff zur »parlamentarischen Demokratie« vorstellt, diente er in Wahrheit nur dazu, ein strikt nach dem »Führerprinzip« organisiertes System zu kaschieren. Was sich Hitler genau unter diesem Prinzip vorstellte, präzisierte er im Kapitel Die erste Entwicklungszeit der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei (I/12), in dem er nochmals dezidiert den »antiparlamentarisch[en]« Charakter der NSDAP betonte. Stattdessen vertrete sie »im kleinsten wie im größten den Grundsatz einer germanischen Demokratie: Wahl des Führers, aber unbedingte Autorität desselben«; dazu gehörte nach Hitlers Vorstellung auch die »Verpflichtung« des jeweiligen Führers »zur vollen Übernahme aller Verantwortung für sein Tun«. Mit Blick auf Hitlers unangefochtene Machtstellung in der NSDAP wurde der letzte Teil des Abschnitts aus Kapitel I/12 bereits 1930 durch folgende Formulierung ersetzt: »Die Bewegung vertritt im kleinsten wie im größten den Grundsatz der unbedingten Führerautorität, gepaart mit höchster Verantwortung.« Unverändert blieb hingegen im vorliegenden Kapitel der folgende Passus: »Dem steht gegenüber die wahrhaftige germanische Demokratie der freien Wahl des Führers, mit dessen Verpflichtung zur vollen Übernahme aller Verantwortung für sein Tun und Lassen.« (S. 94) Dieser Widerspruch, der nie beseitigt wurde, sorgte bei den Zeitgenossen, die sich in der Kunst der Exegese von Hitlers Schrift übten, immer wieder für Verwirrung über die tatsächlichen Vorstellungen des »Führers«.

Vgl. Hammer, Ausgaben, S. 171 f.; Döring, Arm, S. 25 – 36; Schmitz-Berning, Vokabular, S. 266 f.; Plöckinger, Geschichte, S. 195; Kap. I/12, Zitat S. 364, 366. Zum nationalsozialistischen »Führerprinzip« vgl. Kap. II/4, Anm. 35.

126 Seit der Verordnung über die Wahl zur Verfassunggebenden Nationalversammlung vom 30. 11. 1918 besaßen in Deutschland alle Männer und Frauen ab dem 20.  Lebensjahr das aktive und passive Wahlrecht. Das allgemeine Frauenwahlrecht wurde damit früher eingeführt als etwa in den USA (1920), in Großbritannien (1928), in Spanien (1931), in Frankreich (1944) oder in Italien (1946). Des Weiteren spielt Hitler vermutlich hier auf eine Debatte an, die damals im völkischen Lager über die Kandidatur von Frauen für politische Ämter geführt wurde. Obwohl die NSDAP schon Anfang 1921 auf ihrer ersten Generalmitgliederversammlung den rigiden Beschluss gefasst hatte, Frauen dürften »in die Führung der Partei […] nie aufgenommen werden«, plädierte während der Verbotszeit der NSDAP Pia Sophie Rogge-Börner, ein ehemaliges Mitglied der DNVP und inzwischen völkische Publizistin, für eine Kandidatur der »weiblich Hochwertigen« für politische Ämter. Angesichts der sich abzeichnenden Entscheidung der NSDAP, erstmals für Wahlen zu kandidieren, war dies mehr als nur eine theoretische Diskussion. Nachdem in Reventlows Reichswart am 26. 4. 1924 ein entsprechender Artikel Rogge-Börners erschienen war, antwortete ihr dort Emma Witte am 17. 5. mit der Forderung, die Frauen hätten sich der »Notwendigkeit, möglichst viele unserer führenden völkischen Männer in den Reichstag zu bringen […] unterzuordnen«. Reventlow beendete schließlich die Diskussion in seiner Zeitung am 13. 9. mit der Publikation zweier kontroverser Artikel. Danach stand eine Kandidatur weiblicher Nationalsozialistinnen für politische Ämter nicht mehr zur Debatte; vielmehr erklärte Rudolf Buttmann, damals Fraktionsvorsitzender der NSDAP im Bayerischen Landtag, am 10. 10. 1930 kurz und bündig, die NSDAP werde »nie Frauen in den Reichstag, Landtag oder in die Stadtfraktionen schicken«, denn »die Frau« sei »von unserem Herrgott zur Liebe und zum Haushalt geschaffen«. Dass die Debatten des Jahres 1924 Hitler auch in seiner Haft erreichten, hat dieser rückblickend im Januar 1942 ebenso bestätigt wie seine strikt frauenfeindliche Position: »1924 tauchten bei mir die politischen Weiber auf: die Frau [Ehrengard] von Treuenfels, die Mathilde von Kemnitz, sie wollten Reichstagsmitglieder werden, um die Sitten dort zu veredeln. Ich sagte ihnen, neunundneunzig Prozent aller Beratungsgegenstände sind Männerdinge, die Sie nicht beurteilen können!«

Vgl. Hitler, Monologe, Zitat S. 235; Arendt/ Hering/ Wagner (Hrsg.), Frauenpolitik, S. 85; Ziege, Rogge-Börner; Döring, Arm, Zitate S. 391 – 394; Heinsohn, Kampf, S. 41; Büttner, Weimar, S. 253 – 257; Kap. I/2, Anm. 114; Kap. II/2, Anm. 109.

Man wird diese ebenso unsinnige wie gefährliche menschliche Verirrung# 1944: Verirrung ersetzt durch: Verwirrung am ehesten und auch# 1930: eingefügt: am leichtesten verstehen, sobald man den demokratischen Parlamentarismus in Vergleich bringt mit einer wahrhaftigen# 1930: wahrhaftigen ersetzt durch: wahrhaften germanischen Demokratie.125

Das Bemerkenswerte des ersteren liegt darin, daß eine Zahl von sagen wir fünfhundert Männern, oder in letzter Zeit auch Frauen126, gewählt wird, denen nun in allem und jedem die endgültige Entscheidung zu treffen obliegt. Sie sind so praktisch allein die Regierung, denn wenn auch von ihnen ein Kabinett gewählt wird, das nach außen hin die Leitung der Staatsgeschäfte vornimmt, so ist dies trotzdem nur zum Scheine da. In Wirklichkeit kann diese sogenannte Regierung nicht einen Schritt tun, ohne sich nicht vorher erst die Genehmigung von der allgemeinen Versammlung geholt zu haben. Sie ist aber damit auch für gar nichts verantwortlich zu machen, da die letzte Entscheidung ja niemals bei ihr liegt, sondern bei der Majorität des Parlaments. Sie ist in jedem Falle nur die Vollstreckerin des jeweiligen Mehrheitswillens. Man könnte ihre politische Fähigkeit eigentlich nur beurteilen nach der Kunst, mit der sie es versteht, sich entweder dem Willen der Mehrheit anzupassen oder die Mehrheit zu sich herüberzuziehen. Sie sinkt damit aber von der Höhe einer tatsächlichen Regierung herunter zu einer Bettlerin gegenüber der jeweiligen Majorität. Ja, ihre vordringlichste Aufgabe hat nun überhaupt nur mehr darin zu bestehen, von Fall zu Fall sich entweder die Gunst der bestehenden Mehrheit zu sichern oder die Bildung einer besser geneigten neuen zu übernehmen. Gelingt dies, dann darf sie wieder eine kleine Zeit weiter »regieren«, gelingt es nicht, dann kann sie gehen. Die Richtigkeit ihrer Absichten an und für sich spielt dabei gar keine Rolle.

Damit aber wird jede Verantwortlichkeit praktisch ausgeschaltet.

Zu welchen Folgen dies nun# 1926: gestrichen: nun führt, geht schon aus einer ganz einfachen Betrachtung hervor:

Die innere Zusammensetzung der fünfhundert nun# 1926: gestrichen: nun gewählten Volksvertreter nach Beruf oder gar nach den Fähigkeiten der einzelnen ergibt ein ebenso zerrissenes wie meist auch noch kümmerliches Bild. Denn man wird doch nicht etwa glauben, daß diese Aus-