Das Anstehen in Kolonne <span class="pagenumber">[85]</span>

106 In Mein Kampf taucht der Begriff »Solidarität«, der »seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts neben den im Nachklang der Französischen Revolution prominent gewordenen Begriff der ›Brüderlichkeit‹« trat und ihn dann zunehmend ersetzte, sehr selten auf. Das lag weniger daran, dass Hitler mit den »dahinter stehenden Zuschreibungen wie ›Sympathie‹, ›Menschenliebe‹, ›Wohlwollen‹, ›Gemeinsinn‹ oder ›Loyalität‹« – so die moralphilosophische Definition des 20. Jahrhunderts – nur wenig anfangen konnte. Wichtiger war, dass die politische Linke, beginnend im Frankreich des 19. Jahrhunderts, diesen Begriff zunehmend »in einen politischen Kampfbegriff« verwandelte, sodass Hitler ihn in Mein Kampf meist nur ironisch, zur Diffamierung seiner politischen Gegner einsetzte. So schreibt er abwertend von den »Brüdern der internationalen Solidarität« (Kap. II/9, S. 198), der »Solidarität unserer Räuber« (Kap. II/13, S. 277) – gemeint sind die Sieger des Ersten Weltkriegs – oder von den »Träume[n] internationaler Völkersolidarität« (Kap. II/15, S. 341). Nur an einer einzigen Stelle ist im positiven Sinn von »völkische[r] Solidarität« (Kap. I/12, S. 356) die Rede, gewissermaßen in Vorwegnahme jener Usurpierung des Begriffs im Dritten Reich, als vom NS-Regime im Gegensatz zur »internationalen Solidarität« eine »blutmäßig begründete«, »nationale Solidarität« propagiert wurde. Der Tag der jährlichen Eröffnung des Winterhilfswerks wurde in der nationalsozialistischen Terminologie als »Tag der Nationalen Solidarität« bezeichnet.

Vgl. Bayertz, Begriff, Zitate S. 11; Tenfelde, Arbeiterschaft, Zitat S. 195; Schmitz-Berning, Vokabular, Zitat S. 602. 

hundert Hohlköpfe einen Weisen ergeben, so wenig kommt aus hundert Feiglingen ein heldenhafter Entschluß.105

Je leichter aber die Verantwortung des einzelnen Führers ist, um so mehr wird die Zahl derjenigen wachsen, die selbst bei jämmerlichsten Ausmaßen sich berufen fühlen werden, ebenfalls der Nation ihre unsterblichen Kräfte zur Verfügung zu stellen. Ja, sie werden es gar nicht mehr erwarten können, endlich einmal auch an die Reihe zu kommen; sie stehen an in einer langen Kolonne und zählen mit schmerzlichem Bedauern die Zahl der vor ihnen Wartenden und rechnen die Stunde fast aus, die menschlichem Ermessen nach sie zum Zuge bringen wird. Daher ersehnen sie jeden Wechsel in dem ihnen vorschwebenden Amte und sind dankbar für jeden Skandal, der die Reihe vor ihnen lichtet. Will jedoch einmal einer nicht von der eingenommenen Stelle wieder weichen, so empfinden sie dies fast als Bruch eines heiligen Abkommens gemeinsamer Solidarität.106 Dann werden sie bösartig und ruhen nicht eher, als bis der Unverschämte, endlich gestürzt, seinen warmen Platz der Allgemeinheit wieder zur Verfügung stellt. Er wird dafür nicht so schnell wieder an diese Stelle gelangen. Denn sowie eine dieser Kreaturen ihren Posten aufzugeben gezwungen ist, wird sie sich sofort wieder in die allgemeine Reihe der »Wartenden«# 1926: »Wartenden« ersetzt durch: Wartenden einzuschieben versuchen, soferne# 1937: soferne ersetzt durch: sofern nicht das dann anhebende Geschrei und Geschimpfe der anderen sie davon abhält.

Die Folge von dem allen# 1939: allen ersetzt durch: allem ist der erschreckend schnelle Wechsel in den wichtigsten Stellen und Ämtern eines solchen Staatswesens107, ein Ergebnis, das in jedem Falle ungünstig, manchmal aber geradezu katastrophal wirkt. Denn nun wird ja nicht nur der Dummkopf und Unfähige dieser Sitte zum Opfer fallen, sondern noch mehr der wirkliche Führer, wenn das Schicksal einen solchen an diese Stelle zu setzen überhaupt noch fertigbringt. Sowie man nur einmal dieses erkannt hat, wird sich sofort eine geschlossene Front zur Abwehr bilden, besonders, wenn ein solcher Kopf, ohne aus den eigenen Reihen zu stammen, dennoch sich untersteht, in diese erhabene Gesellschaft einzudringen. Man will da grundsätzlich nur unter sich sein und haßt als gemeinsamen Feind jeden Schädel, der unter den Nullen