Politik auf weite Sicht <span class="pagenumber">[107]</span>

27 Auf dem Höhepunkt der Agitation gegen die »Italianisierung« Südtirols kam es 1926 in mehreren deutschen Städten zu antiitalienischen Boykottaufrufen. In München wurde im Januar 1926 ein Komitee zum Boykott italienischer Waren gegründet, dem sich auch völkische Kreise anschlossen und auf das Hitler hier anspielt. Um Hitlers proitalienische Position zu verteidigen, organisierte die NSDAP am 25. 2. 1926 eine Versammlung zum Thema »Südtirol, Mussolini und Held«, auf der Julius Streicher und Hermann Esser sprachen, da für Hitler noch immer das Redeverbot galt. Esser erklärte: »Das Italien von heute ist aus einem Volk von Bettlern und Strauchdieben zu einer stolzen Nation geworden. Dank der Politik eines Mussolini, den heute alle Welt bekämpft. Die führende Dreieinheit der antifaschistischen Front: Hochfinanz, Marxismus und Freimaurertum im Zeichen des Davidssterns, weist uns, daß es hier nicht etwa um die Befreiung Südtirols, sondern um einen Kampf der heutigen Weltbeherrscher geht.« Im Gegensatz dazu plädierte die Mecklenburger Warte, ein führendes Organ der Völkischen aus Norddeutschland, am selben Tag für einen Boykott gegen Lebensmittel aus Italien. Hitler verspottete solche Aktionen am 18. 3. 1926 als »lächerlichen Zitronenrummel«. Die Reichsregierung hatte sich schon zuvor von der Boykottbewegung distanziert. Am 9. 2. 1926 betonte Gustav Stresemann vor dem Reichstag, dass »die deutsche Regierung dem Boykott italienischer Waren und dem Boykott der Reisen nach Italien fernsteht«.

Vgl. VB vom 18. 10. 1919, »Aus der Bewegung«; VB vom 7. 2. 1920, »Unterm Scheinwerfer«; Mecklenburger Warte vom 25. 2. 1926, »Wie helfen wir Südtirol?«; VB vom 27. 2. 1926, »Südtirol, Mussolini und Held«; Hitler, Bd. I, Dok. 112, Zitat S. 354; Steurer, Südtirol, S. 103 – 105; Stresemann, Reden, Zitat S. 377; Knigge, Italienbild, S. 84 – 90; Kap. II/13, Anm. 124.

30 Es lässt sich nicht mit Gewissheit bestimmen, welche historischen Persönlichkeiten Hitler hier vor Augen hatte. Bezeichnenderweise führt er in Mein Kampf zwar immer wieder geschichtliche Bezüge an, um seinen Behauptungen den Anschein von Seriosität zu verleihen, konkrete Beispiele, an denen seine historischen Analogien kritisch geprüft werden könnten, bietet er jedoch fast nie. Fest steht indes, dass Hitler der hier formulierte Gedanke schon früh umtrieb. So rief er auf dem Münchner Parteitag der NSDAP am 23. 1. 1922 aus: »Immer mehr Menschen mußte die ewige Wahrheit eingebrannt werden, daß das Recht zur entscheidenden Tat derjenige besitzt, der in seinem tiefsten Inneren in der Überzeugung seines heiligen Rechtes und der Wahrhaftigkeit seines Handelns die Verantwortung zu übernehmen bereit ist vor sich, seinem Gewissen und einer möglicherweise erst in Jahrtausenden gerecht urteilenden Nachwelt.«

Vgl. Jäckel/ Kuhn (Hrsg.), Hitler, Dok. 347, Zitat S. 553 (Herv. i. Orig.).

jüdisch-freimaurerischen25 Umklammerung zu entziehen und dieser internationalen Weltvergiftung einen nationalistischen Widerstand entgegenzusetzen.26 Es war aber zu verlockend für schwache Charaktere, einfach die Segel nach dem Wind zu stellen und vor dem Geschrei der öffentlichen Meinung zu kapitulieren.27 Und um eine Kapitulation hat es sich gehandelt! Mögen die Menschen in ihrer inneren Verlogenheit und Schlechtigkeit es auch nicht zugeben, vielleicht nicht einmal sich selbst gegenüber, so bleibt es doch Wahrheit, daß nur Feigheit und Angst vor der durch den Juden in Aufruhr gebrachten Volksstimmung28 es war, die sie zum Mittun veranlaßte. Alle anderen Begründungen sind jämmerliche Ausflüchte des schuldbewußten kleinen Sünders.

Da war es notwendig, mit eiserner Faust die Bewegung herumzureißen, um sie vor dem Verderben durch diese Richtung zu bewahren.29 Eine solche Umstellung zu versuchen#1929: gestrichen: zu versuchen in dem Augenblick#1929: eingefügt: zu versuchen, da die öffentliche Meinung durch alle treibenden Kräfte angefacht wie eine große Flamme nur nach einer Richtung hin brennt, ist allerdings im Augenblick nicht sehr populär, ja für den Wagemutigen manchesmal#1933: manchesmal ersetzt durch: manches Mal fast todgefährlich. Aber nicht wenige Männer der Geschichte sind in solchen Augenblicken für ein Handeln gesteinigt worden, für das die Nachwelt später alle Veranlassung hatte, ihnen auf den Knien zu danken.30

Damit aber muß eine Bewegung rechnen und nicht mit dem augenblicklichen Beifall der Gegenwart. Es mag dann schon so sein, daß in solchen Stunden dem Einzelnen#1929: Einzelnen ersetzt durch: einzelnen;
1930: Einzelnen;
1933: einzelnen ängstlich zumute wird; allein er soll nie vergessen, daß nach jeder solchen Stunde einmal auch die Erlösung kommt, und daß eine Bewegung, die eine Welt erneuern will, nicht dem Augenblick, sondern der Zukunft zu dienen hat.

Man kann dabei feststellen, daß die größten und nachhaltigsten Erfolge in der Geschichte meistens die zu sein pflegen, die bei ihrem Beginne#1937: Beginne ersetzt durch: Beginn;
1939: Beginne am wenigsten Verständnis fanden, weil sie zur allgemeinen öffentlichen Meinung, zu ihrer Einsicht und zu ihrem Willen im schärfsten Gegensatz standen.

Das konnten wir schon damals#1944: schon damals ersetzt durch: damals schon, am ersten Tage unseres öffent-