Der Marxismus ist unschöpferisch <span class="pagenumber">[87]</span>

29 Schon im deutschen Kaiserreich war die Vorstellung östlicher, vor allem aber russischer Kulturlosigkeit weitverbreitet. Als ein Hauptargument diente die niedrige Alphabetisierungsquote in Russland; 1897 betrug sie nur rund 28 %. Allerdings gab es hier große Unterschiede: In der Stadt konnten deutlich mehr Menschen lesen und schreiben als auf dem Land. Die Lesefähigkeit von Männern lag signifikant über jener von Frauen. Und auch in ethnischer Hinsicht differierte die Quote der Alphabetisierung stark; an der Spitze standen hier die Esten, gefolgt von den Letten und den Deutschen. Da in der Vorkriegszeit die Zahl der Schulen, Periodika und Bücher rasch stieg, sank schon vor 1917 die Quote der Analphabeten auf rund 60 %. Nach der Oktoberrevolution 1917 forcierten die Bolschewiki dann mit Nachdruck und Erfolg die Alphabetisierung Russlands: Bis 1926 stieg die Quote auf 80,9 % (Stadt) und 50,6 % (Land), bis 1939 dann auf 93,8 % bzw. 84 %. Dessen ungeachtet wurde der Topos von der russischen »Kulturlosigkeit« weiterhin auf »den Bolschewismus« projiziert – nicht nur im rechten Lager. In seinem Buch Die proletarische Revolution und ihr Programm (1922) sprach sogar Karl Kautsky, 1917 Mitbegründer der USPD, von einer grundsätzlichen »Kulturlosigkeit des Bolschewismus«. Im Gegensatz zu Hitlers bloßer Polemik bemühte sich Kautsky indes um konkrete Argumente und rügte vor allem die autoritäre sowjetische Kulturpolitik, die den gesamten Kulturbetrieb unter die Kontrolle der KPdSU zu bringen suchte. In den Augen Kautskys war der Bolschewismus das »furchtbarste Mittel der Verdummung der Massen«, trotz seines »Kokettierens mit der modernen Kunst und Literatur« – eine Anspielung auf die Förderung von Expressionismus und Futurismus in der frühen Sowjetunion, als sich nach dem Wegfall der zarischen Zensur die Entfaltungsmöglichkeiten für Vertreter der künstlerischen Avantgarde für kurze Zeit deutlich ausweiteten. Kulturkonservativen Beobachtern, die weder Verständnis noch Interesse für die neuen Ausdrucksformen in Literatur, Musik und Malerei seit dem späten 19. Jahrhundert aufbrachten, war dies freilich nur ein weiteres Indiz für die angebliche Kulturlosigkeit.

Vgl. Kautsky, Revolution, Zitat S. 233 f.; Hildermeier, Geschichte (1998), S. 303 – 309, 339 – 352, 544 f., 1179; Lammich, »Barbarenland«, S. 148 – 155, 164 – 177; Conrad, Globalisierung, S. 69 f.; Kap. I/10, S. 273 sowie die dortige Kommentierung.

30 Der Erste Weltkrieg, der Bürgerkrieg, vor allem aber die übereilten Verstaatlichungen von Banken und Fabriken sowie die staatliche Kontrolle des Außenhandels stürzten die russische Wirtschaft in eine schwere Krise, die sich auch in verheerenden Epidemien und Hungersnöten äußerte. Schätzungen zufolge fielen ihnen zwischen 1918 und 1923 fünf bis sieben Millionen Menschen zum Opfer. Auf dem 10. Parteitag der KPdSU im März 1921 verkündete daher der sowjetische Regierungschef Wladimir Iljitsch Lenin die »Neue Ökonomische Politik« (NEP). Dieses neue wirtschaftspolitische Konzept, das den sogenannten Kriegskommunismus ablöste, ließ in Industrie und Gewerbe private Produktion in begrenztem Umfang wieder zu und ermöglichte zudem Investitionen ausländischer Investoren. Diese Konzessionen an die Mechanismen einer freien Marktwirtschaft riefen scharfe innerparteiliche Kritik hervor, sorgten jedoch für eine begrenzte wirtschaftliche Erholung der UdSSR und prägten für einige Jahre die sowjetische Wirtschaft. Die Verkündung des ersten Fünfjahresplans auf dem 15. Parteitag der KPdSU im Dezember 1927 bedeutete schließlich das Ende der NEP.

Vgl. Ball, Capitalist; White, Relations; Hildermeier, Geschichte (1998), S. 134 – 156, 233 – 269, 368 – 377; Hildermeier, Sowjetunion, S. 25 – 28; Baberowski, Erde, bes.S. 81 – 91.

walten, sondern ausschließlich nur durch den Beweis, selbst eine solche Kultur schaffen zu können. Der Marxismus könnte tausendmal die heutige Wirtschaft übernehmen und unter seiner Führung weiterarbeiten lassen, so würde sogar ein Erfolg dieser Tätigkeit doch gar nichts beweisen gegenüber der Tatsache, daß er nicht in der Lage wäre, unter Anwendung seines Prinzips das selbst zu schaffen, was er als fertig heute übernimmt.28

Und dafür hat der Marxismus den praktischen Beweis erbracht. Nicht nur, daß er nirgends eine Kultur29 oder auch nur eine Wirtschaft selbst schöpferisch#1937: selbst schöpferisch ersetzt durch: selbstschöpferisch;
1939: selbst schöpferisch zu begründen vermochte, er war ja tatsächlich nicht einmal in der Lage, die bestehenden#1944: bestehenden ersetzt durch: bestehende nach seinen Prinzipien weiter fortzuführen, sondern mußte schon nach kürzester Zeit auf dem Wege von Konzessionen zurückgreifen#1929: gestrichen: zurückgreifen zu den Gedankengängen des Persönlichkeitsprinzips#1929: eingefügt: zurückgreifen, genau so wie er ja#1929: gestrichen: ja auch selbst#1929: gestrichen: selbst in seiner eigenen Organisation dieser Grundsätze nicht entraten kann.30

Das hat aber die völkische Weltanschauung von der marxistischen grundsätzlich zu unterscheiden, daß sie nicht nur den Wert der Rasse, sondern damit auch die Bedeutung der Person erkennt und mithin zu den Grundpfeilern ihres ganzen Gebäudes bestimmt. Das sind die tragenden Faktoren ihrer ganzen#1930: gestrichen: ganzen Weltauf‌fassung.

Würde besonders die nationalsozialistische Bewegung die fundamentale Bedeutung dieser grundsätzlichen Erkenntnis nicht verstehen, sondern statt dessen am heutigen Staate äußerlich herumflicken oder gar den Massenstandpunkt auch#1930: gestrichen: auch als den ihren ansehen, dann würde sie in Wirklichkeit nur eine Konkurrenzpartei zum Marxismus darstellen; das Recht, sich eine Weltanschauung zu nennen, besäße sie damit nicht. Wenn das soziale Programm der Bewegung nur darin bestände, die Persönlichkeit zu verdrängen und an ihre Stelle die Masse zu setzen, dann wäre der Nationalsozialismus selbst bereits vom Gift des Marxismus angefressen31, wie unsere bürgerliche Parteienwelt#1944: Parteienwelt ersetzt durch: Parteiwelt dies ist.

Der völkische Staat hat für die Wohlfahrt seiner Bürger zu sorgen, indem er in allem und jedem die Bedeutung des Wertes der Person