Kriegsgesellschaften und antipreußische Stimmung <span class="pagenumber">[203]</span>

6 Hitlers Behauptung ignoriert die territoriale Kontinuität der meisten deutschen Bundesstaaten nach 1918/19 – von der des Deutschen Reichs, das der Krise der Jahre 1914 – 1923 ebenfalls standgehalten hatte, ganz zu schweigen. Im August 1919 bestand das Reich aus 24 Ländern; sie waren das Produkt dynastischer Politik und nicht das einer systematischen territorialen Neuordnung. Lediglich sieben mitteldeutsche Kleinstaaten – Sachsen-Weimar-Eisenach, Sachsen-Meiningen, Sachsen-Altenburg, Sachsen-Gotha, Schwarzburg-Rudolstadt, Schwarzburg-Sondershausen sowie der Volksstaat Reuß – schlossen sich mit Wirkung vom 1. 5. 1920 zum Land Thüringen zusammen, während sich der Freistaat Coburg am 1. 7. 1920 an Bayern anschloss. Ansonsten blieb es beim territorialen Status quo mit Kleinstaaten wie etwa dem Freistaat Anhalt oder dem Freistaat Waldeck (bis 1922/29), deren Existenz nach dem Verschwinden ihrer Dynastien kaum noch gerechtfertigt schien.

Vgl. Huber, Verfassungsgeschichte, Bd. 4, S. 744 – 851; Thüringen-Handbuch, S. 22 – 32; Holste, Bundesstaat, S. 267 – 270; Wittreck (Hrsg.), Landesverfassungen.

7 Nach einer politischen Großdemonstration von SPD, USPD und Gewerkschaften am 7. 11. 1918 auf der Münchner Theresienwiese hatte sich die Lage in der bayerischen Hauptstadt rasch verselbstständigt. Unterstützt von etwa 1.000 Soldaten und Matrosen konnte sich Kurt Eisner als Führer der bayerischen USPD die Unterstützung der Münchner Garnisonen sichern. Nach weiteren Demonstrationen vor der Münchner Residenz lief noch am Abend des 7. 11. deren Wache auseinander; König Ludwig III. floh nach Schloss Wildenwart im Chiemgau. In derselben Nacht proklamierte Eisner auf der ersten Sitzung des Arbeiter- und Soldatenrats im bayerischen Landtag die »Republik Bayern«. Am 13. 11. 1918 entband König Ludwig von Schloss Anif bei Salzburg aus die bayerischen Beamten und Offiziere von ihrem Treueeid, ohne jedoch offiziell abzudanken. Einen so schnellen und durchschlagenden Erfolg ihrer »Überraschungsstrategie« – so Eisner am 8. 11. – hatten die Revolutionäre nicht erwartet. Verglichen mit vielen anderen Teilen des Reichs waren die politischen und sozialen Spannungen in Bayern längst nicht so stark ausgeprägt. Vielmehr wurzelte die Unzufriedenheit auch in der Vorstellung, Preußen und »Berlin« seien für den Krieg und seine Folgen verantwortlich.

Vgl. Ay, Entstehung, S. 202 – 209; Schmolze (Hrsg.), Revolution, S. 85 – 156, Beckenbauer, Ludwig III., S. 242 – 280; Grau, Eisner, S. 343 – 385; Revolution! Bayern 1918/19.

8 Für die deutschen militärischen Planungen vor 1914 war die Prämisse eines kurzen Feldzugs maßgebend. Vorbereitungen für eine längerfristige wirtschaftliche Mobilmachung schienen nach den Erfahrungen in den Einigungskriegen unnötig. Mit dem Beginn der britischen Seeblockade kurz nach Kriegsausbruch wurde freilich absehbar, dass eine nachhaltige Rohstoffversorgung schon rasch zur Achillesferse der deutschen Kriegsindustrie werden würde. Nachdem Walther Rathenau, seit 1912 Aufsichtsratsvorsitzender der AEG, frühzeitig auf dieses zentrale Problem hingewiesen hatte, wurde er bereits im August 1914 mit der Gründung der Kriegsrohstoffabteilung beauftragt, die er bis zum 31. 3. 1915 leitete. Aufgabe dieser neu geschaffenen Berliner Behörde war die Zwangsbewirtschaftung der vorhandenen Rohstoffe. Damit beauftragt wurden die sogenannten Kriegsgesellschaften, von denen bis Kriegsende ca. 200 mit insgesamt 33.000 Angestellten entstanden; sie hatten die »Lagerung, Bewirtschaftung, Nutzbarmachung, Verteilung und Verwertung solcher Handelsgüter« zu organisieren, die »geeignet sind, der inländischen Wirtschaft zu dienen«. Ein Schlüsselprodukt war beispielsweise Stickstoff, den sowohl die Landwirtschaft wie auch die Munitionsindustrie dringend benötigten. Eine solch zentralisierte Bewirtschaftung war damals alternativlos. Ohne Rathenaus Initiative hätte die deutsche Kriegswirtschaft unmöglich vier Jahre lang funktioniert. Im Zweiten Weltkrieg sollte Albert Speer, ab 1942 Reichsminister für Bewaffnung und Munition, zum Teil exakt jene Methoden anwenden, die Rathenau entwickelt hatte. Nach 1945 urteilte Speer selbst: »Der eigentliche Urheber der ›industriellen Selbstverwaltung‹ war Walther Rathenau, der große jüdische Organisator der deutschen Kriegswirtschaft des Ersten Weltkriegs.«

Vgl. Speer, Erinnerungen, Zitat S. 223; Burchardt, Rathenau; Williamson, Rathenau, Zitat S. 123; Ehlert, Zentralbehörde, S. 30 – 82; Feldman, Armee; Rohlack, Kriegsgesellschaften; Schölzel, Rathenau, S. 172 – 181; Gall, Rathenau, S. 184.

9 Es verdient Beachtung, dass Hitler an dieser Stelle Walther Rathenau nicht explizit erwähnt, obwohl dieser als prominenter und wirtschaftlich höchst erfolgreicher deutscher Jude Hitlers verquere Argumentation vordergründig zu bestätigen scheint. Möglicherweise fürchtete Hitler juristische Konsequenzen. So war etwa Alfred Roth, der in mehreren Hetzschriften versucht hatte, Rathenau zu diskreditieren, im Mai 1923 vom Staatsgerichtshof in Leipzig wegen öffentlicher Beleidigung Rathenaus zu einer Geldstrafe von 500.000 Reichsmark oder 100 Tagen Gefängnis verurteilt worden. Hinzu kam, dass sich auch eine Reihe führender nationalkonservativer Politiker ungewöhnlich scharf und klar von der antisemitischen Kritik an Rathenau distanzierten. Theobald von Bethmann Hollweg dankte Rathenau etwa für die »außerordentlichen Verdienste«, die er sich mit der Rohstoffversorgung »um das Vaterland erworben« habe. Ähnliche Äußerungen sind von dem preußischen Kriegsminister Adolf Wild von Hohenborn und seinem Stellvertreter Franz Gustav von Wandel überliefert. Rathenau selbst reagierte empfindlich auf die Kritik von rechts: Man könne ihm nicht verzeihen, »daß ich als Privatmann und Jude unaufgefordert dem Staat einen Dienst geleistet habe«.

Vgl. Armin, Juden (1921); Roth, Verteidigungsrede; Hecker, Rathenau, Zitate S. 248; Gall, Rathenau, S. 175 – 248; Volkov, Rathenau, S. 146 – 172.

10 In Wirklichkeit standen die Kriegsgesellschaften schon während des Ersten Weltkriegs im Kreuzfeuer der antisemitischen Kritik. Vor diesem Hintergrund forderte am 19. 10. 1916 auch Matthias Erzberger im Reichstag eine »eingehende Übersicht über das gesamte Personal aller Kriegsgesellschaften«. Dem Vorwurf der »Verjudung« war auch die Zentral-Einkaufsgesellschaft ausgesetzt; sie war 1914 auf Initiative des Hamburger Reeders Albert Ballin, des Hamburger Bankiers Max Warburg und seines Generalbevollmächtigen Carl Melchior gegründet worden, um ausländische Rohstoffe und Lebensmittel zu importieren. 1921 veröffentlichte der rabiate Antisemit Alfred Roth, seit 1920 Hauptgeschäftsführer des Deutschvölkischen Schutz- und Trutzbunds (DVSTB), unter dem Pseudonym Otto Armin das Pamphlet Die Juden in den Kriegs-Gesellschaften und in der Kriegs-Wirtschaft, in dem er sich über deren angebliche »Verjudung« ereiferte. Mit solchen Behauptungen, in denen sich antikapitalistische und antisemitische Ressentiments mischten, stand Roth nicht allein. In einem Münchner Flugblatt vom April 1919 hieß es: »In den Kriegsgesellschaften z. B., die über Eure Nahrung, Kleidung verfügen, sitzen 86 Prozent Juden, 86 mal so viel, als nach dem Prozentsatz es sein dürfen. […] Von 25 Mitgliedern sind 23 Juden (2 fraglich).« Gegen diese plumpen Fehlinformationen gab es bereits zeitgenössischen Widerspruch; so errechnete Hanns Falk, dass 11,5 % der Mitarbeiter der Kriegsgesellschaften jüdischer Herkunft gewesen seien. Verglichen mit dem Anteil deutscher Juden am Handel – die Quote lag reichsweit bei 10,5 %, in Berlin bei 14,5 % – seien die Juden damit nicht wesentlich überrepräsentiert gewesen.

Vgl. BSB, 4 H. un. app. 219 t-7: Flugblatt, »An alle Schaffenden!«; Lambach, Diktator; Meister, Schuldbuch (^3/41919), S. 86 – 91; Falk, Juden; Armin, Juden (1921); Roth, Verteidigungsrede; Winkler, Weg (2002), Bd. 1, Zitat S. 344.

11 Die unvermittelte Anpassung der deutschen Wirtschaft an die Erfordernisse des Krieges sorgte ab 1914 für eine ganze Reihe struktureller Probleme. Die staatlich-privatwirtschaftliche Kooperation in der Kriegswirtschaft brachte den Staat in eine ökonomische und zunehmend auch politische Abhängigkeit von der Industrie. Die Mitglieder der Kriegsgesellschaften konnten ihre eigenen Betriebe bei der Vergabe von Heeresaufträgen bevorzugen, mithilfe ihrer Befugnisse bei Stilllegung, Enteignung und Überwachung lästige Konkurrenten verdrängen und die Möglichkeit zu Preisabsprachen, Syndizierung und Lohndrückerei nützen. Verlierer waren dabei vor allem mittlere und kleinere Betriebe, schon weil sich diese eine Beteiligung an den als Aktiengesellschaften, seltener als GmbHs organisierten Kriegsgesellschaften oft nicht leisten konnten. Auch war die in Preußen ansässige Schwerindustrie in der Lage, ihr Übergewicht auf Kosten der süddeutschen Staaten auszuspielen – mit der Folge eines steigenden Nord-Süd-Gegensatzes. So entstand im agrarisch geprägten Bayern der Eindruck, man sei gegenüber »den« Preußen wirtschaftlich benachteiligt. Die Folge war, dass Industrie und Militärbürokratie der süddeutschen Staaten »einen immer virulenteren Regionalprotektionismus« förderten, um »die schleichende Aushöhlung des politischen wie des wirtschaftlichen Föderalismus abzuwehren«.

Vgl. Burchardt, Rathenau; Ehlert, Zentralbehörde, S. 30 – 82; Feldman, Armee; Mai, Ende, S. 88 – 95, Zitat S. 94; Rohlack, Kriegsgesellschaften.

12 Aller antipreußischen Ressentiments zum Trotz war damals die Haltung der politisch Verantwortlichen in Bayern eher von Verbitterung und Sorge geprägt. So schrieb der bayerische Kronprinz Rupprecht am 14. 7. 1917: »In rücksichtsloser Weise die Kriegsnot ausnützend, haben Geschäftsleute es nun verstanden, durch Schaffung all der verschiedenen in Berlin errichteten Zentralstellen das innerdeutsche Wirtschaftsleben allmählich unter ihre Kontrolle und ihre Gewalt zu bringen. Die Folge wird sein, daß nach dem Kriege der jetzt schon in Not geratene Mittelstand verschwinden und eine Vertrustung eintreten wird, schlimmer als in Amerika. Gerade für Bayern mit seinem so zahlreichen Mittelstande wird die Sache nahezu katastrophal.«

Vgl. Rupprecht von Bayern, Treue, Bd. 2, Zitat S. 225.

willige Unterlassung böser gerächt worden. Die Schwächung, die man Preußen zuzufügen glaubte, hat ganz Deutschland betroffen. Ihre Folge aber war die Beschleunigung des Zusammenbruchs, der jedoch nicht etwa nur Deutschland zertrümmerte, sondern in erster Linie gerade die Einzelstaaten selbst.6

In der Stadt, in welcher der künstlich geschürte Haß gegen Preußen am heftigsten tobte, brach als erste#1929: erste ersetzt durch: erster [sic!] die Revolution gegen das angestammte Königshaus aus.7

Nun wäre es allerdings falsch, zu glauben, daß der feindlichen Kriegspropaganda allein die Fabrikation dieser antipreußischen Stimmung zuzuschreiben gewesen sei und daß Entschuldigungsgründe für das von ihr ergriffene Volk nicht vorhanden gewesen wären. Die unglaubliche Art der Organisation unserer Kriegswirtschaft, die in einer geradezu wahnwitzigen Zentralisation das gesamte Reichsgebiet bevormundete und – ausgaunerte, war ein Hauptgrund für das Entstehen jener antipreußischen Gesinnung. Denn für den normalen kleinen Mann waren die Kriegsgesellschaften, die nun einmal ihre Zentrale in Berlin besaßen8, identisch mit Berlin, und Berlin selbst gleichbedeutend mit Preußen. Daß die Organisatoren dieses Raubinstituts9, Kriegsgesellschaften genannt, weder Berliner noch Preußen, ja überhaupt nicht Deutsche waren, kam dem Einzelnen#1937: Einzelnen ersetzt durch: einzelnen damals kaum zum Bewußtsein.10 Er sah nur die grobe Fehlerhaftigkeit und die dauernden Übergriffe dieser verhaßten Einrichtung in der Reichshauptstadt und übertrug nun seinen ganzen Haß selbstverständlich auf diese Reichshauptstadt und Preußen zugleich11, um so mehr, als von bestimmter Seite nicht nur nichts dagegen unternommen, sondern im stillen eine solche Deutung sogar schmunzelnd begrüßt wurde.12

Der Jude war viel zu klug, um nicht schon damals zu verstehen, daß der infame Beutezug, den er unter dem Deckmantel der Kriegsgesellschaften gegen das deutsche Volk organisierte, Widerstand hervorrufen würde, ja mußte. Solange dieser ihm selbst nicht#1937: ihm selbst nicht ersetzt durch: ihm nicht selbst;
1939: ihm selbst nicht;
1944: ihm nicht selbst an die Gurgel sprang, brauchte er ihn nicht zu fürchten. Um aber eine Explosion der zur Verzweiflung und Empörung getriebenen Massen