Die S. A. bewährt sich als lebendige Kampforganisation <span class="pagenumber">[199]</span>

253 Der »Deutsche Tag« in Coburg war für die NSDAP tatsächlich so etwas wie ein Durchbruch – zumindest in Bayern. Was sie in Coburg erstmals erprobt hatte, war ein Modell der Machteroberung, wie es die italienischen Faschisten schon länger praktizierten: Mithilfe des militärischen Prinzips der regionalen Überlegenheit wurde ein einzelner, noch überschaubarer Ort »erobert«, indem sich alle eigenen Kräfte darauf konzentrierten. Diese »Eroberungen« erfolgten meist über zwei Ansätze: Die bestehende politische Ordnung und deren Organe wurden verbal, aber auch physisch bis an die Grenze des Möglichen gereizt, gleichzeitig wurden die eigentlichen politischen Gegner bewusst provoziert. Deren Reaktion ließ dann gewöhnlich nicht lange auf sich warten, sodass die Nationalsozialisten wie die Faschisten nun mit dem Anspruch auftraten, der provozierten Schwäche des bestehenden Staates entgegenzuwirken und »Ruhe und Ordnung« wiederherzustellen.

Doch hatte die NSDAP in Coburg nicht nur vorgeführt, wie sie sich den »Kampf um die Straße« vorstellte, sie hatte auch ihren Führungsanspruch im rechtsradikalen Lager unterstrichen: Der »Deutsche Tag« war in erster Linie zu einer Veranstaltung Hitlers geworden. Das wurde nicht nur in Coburg selbst sichtbar, wo der Völkische Block bereits bei der Reichstagswahl vom 4. 5. 1924 sensationelle 41,9 % der Stimmen erhielt. Auch rechtsradikale Kreise außerhalb Coburgs verstanden die dortigen Ereignisse als ein Signal, sodass die NSDAP nun auch in Nordbayern zunehmend das Erbe des DVSTB, der Deutschen Werkgemeinschaft und der DsP antrat. Bereits am 20. 10. 1922 gründete Julius Streicher, der mit einem Teil seiner Anhänger die DsP verlassen hatte, eine Nürnberger Ortsgruppe der NSDAP. Es war daher kein Zufall, wenn Hitler genau eine Woche nach dem »Deutschen Tag« seine interne Denkschrift vom 22. 10. 1922 über einen großzügigen »Ausbau der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei« verfasste.

Vgl. Jäckel/ Kuhn (Hrsg.), Hitler, Dok. 457; Statistisches Jahrbuch für den Freistaat Bayern 16 (1924), S. 452 f.; Hambrecht, Aufstieg, S. 32 f.; Hayward/ Morris, Town; Roos, Streicher, S. 64 – 70.

254 Der Auftritt der NSDAP in Coburg hinterließ bei Anhängern wie Gegnern einen nachhaltigen Eindruck – nicht zuletzt vor dem Hintergrund des Coups, den die italienischen Faschisten mit ihrem Marsch auf Rom (27. – 31. 10. 1922) fast zeitgleich gelandet hatten. Der Organisator des »Deutschen Tags« Alfred Roth schrieb am 3. 11. 1922: »Es wäre […] wirklich gut, wenn wir eine Faschistenbewegung aufbauen könnten, die insbesondere entschlossen ist, der Gewalt durch Gewalt zu begegnen. Wie heilsam das wirkt, hat Coburg gelehrt, und wir sollten auf diesem Wege fortschreiten.« Die Veranstaltung in Coburg bot Hitler auch Gelegenheit, Kontakte zu norddeutschen Rechtsradikalen zu knüpfen – etwa zu dem Rechtsanwalt Adalbert Volck, Erich Bade und Leutnant a. D. Kurt Oskar Bark, einem Angehörigen des Freikorps Roßbach. Auch dessen Führer Gerhard Roßbach schloss sich damals der NSDAP an und versuchte am 19. 11. 1922, wenn auch vergeblich, eine Ortsgruppe in Berlin zu gründen.

Vgl. Hambrecht, Bayern, S. 194; Lohalm, Radikalismus, S. 289, 431; Sauer, Freikorps, S. 5, 10.

255 In Wahrheit konnte sich Hitler auch in diesem Fall auf die Protektion eines Teils der bayerischen Behörden verlassen. Für das ermittelnde Staatspolizeiamt in Nürnberg trug allein die linke Seite die Schuld an der Zuspitzung der Ereignisse: »Die Absicht, eine unbequeme Veranstaltung mit Gewalt zu verhindern, trat deutlich bei der Deutschen Tagung in Coburg in Erscheinung«, hieß es in einem Bericht des Staatspolizeiamts Nürnberg-Fürth. Als sich ferner das Reichsministerium des Innern beim Bayerischen Ministerium des Innern erkundigte, was es mit den Vorfällen in Coburg auf sich habe, weigerte man sich auf bayerischer Seite, in dieser Sache einen Bericht zu verfassen. Stattdessen verkündete der bayerische Innenminister Franz Schweyer (BVP) am 21. 11. 1922 im Bayerischen Landtag, dass »in der Mehrzahl der Fälle, in denen es zu Zusammenstößen zwischen Hitlerleuten und Coburger Arbeitern kam, die Herausforderung von Arbeitern ausgegangen« sei. Die sozialdemokratische Münchener Post mutmaßte daraufhin über »innige Beziehungen zwischen Landespolizei und der Nationalsozialistischen Hitlergarde«.

Vgl. StA München, Pol. Dir. 6699: Staatspolizeiamt Nürnberg-Fürth, Bericht vom 8. 11. 1922 (Zitat); Münchener Post vom 31. 10. 1922, »Faszismus und Bayerische Landespolizei«; Verhandlungen des Bayerischen Landtags, III. Tagung 1922/23, Bd. 7, S. 173; Hambrecht, Aufstieg, S. 33.

256 Außerordentlich wohlwollend berichtete damals die rechts stehende Coburger Zeitung über die Veranstaltung: Der »Deutsche Tag« sei trotz »der von soz[ialistischer] Seite betriebenen Vereitelungsversuche […] von Anfang bis Ende programmgemäß« verlaufen: »Weder die bereits am Sonnabend bei Ankunft der nat[ional]-soz[ialistischen] Gruppen aus München, Stuttgart, Nürnberg usw. vorgekommenen Anrempelungen und Beschimpfungen der Süddeutschen mit teilweise einsetzender Prügelei einzelner Heißsporne, die auch in der Nacht zum Sonntag von soz[ialistischer] Seite fortgesetzt wurden, noch die am Sonntag von soz[ialistischer] Seite versuchte Inszenierung einer sogenannten Gegendemonstration [...] konnten dem Verlauf der Tagung Einbruch tun [sic!].« Bemerkenswerterweise stellte sich auch das Coburger Tageblatt, ein Organ der bürgerlichen Mitte, auf die Seite der NSDAP, obwohl es bei dieser Gelegenheit nochmals betonte: »Wir sind grundsätzlich Gegner der von den Deutschvölkischen vertretenen Ideen und Kampfmethoden und bekämpfen diese.« Doch sei, so das Coburger Tageblatt, die Veranstaltung der Völkischen genehmigt gewesen. Vor allem aber wäre es taktisch viel geschickter gewesen, »die deutschvölkische Veranstaltung unbeachtet zu lassen, denn dann hätten sich die deutschvölkischen ›Stoßtrupps‹ zu Festbummlern verwandeln müssen und auch die Gummi- und sonstigen Knüppel hätten nicht den Zweck ihrer Bestimmung erreicht«. Am kritischsten waren die Kommentare des Coburger Volksblatts. Während sich die Coburger Regionalpresse verständlicherweise sehr detailliert mit den Ereignissen vor Ort auseinandersetzte, blieb die Reaktion der überregionalen Presse eher verhalten. So berichtete der Vorwärts am 16. 10. 1922: »Offenbar angeregt durch das Beispiel der italienischen Fascisten entfalten die bayerischen ›Nationalsozialisten‹ in der letzten Zeit wieder eine lebhafte Tätigkeit. Ihr Führer Hitler zieht mit seinen Stoßtruppen von Ort zu Ort. […] Am Sonntag war er unter Benutzung eines Extrazuges nach Koburg gefahren. Im bayerischen Oberland läßt er durch seine Leute in den Waffengeschäften Waffen aufkaufen. Die Regierung sieht diesem Treiben tatenlos zu. Die Staatsanwaltschaft lehnt es ab, gegen die Landfriedensbrecher einzuschreiten.« Die Münchner Neuesten Nachrichten berichteten zwar über die Veranstaltung, ohne jedoch deren Verlauf zu bewerten.

Vgl. Coburger Tageblatt vom 16. und 18. 10. 1922, »Aus Stadt und Land«; Coburger Volksblatt vom 16. 10. 1922, »Coburg unter der Herrschaft Hitlers«; Coburger Zeitung vom 16. und 18. 10. 1922, »Dritter Deutscher Tag in Coburg«; Vorwärts vom 16. 10. 1922, »Die bayerischen Fascisten« (Zitat); Münchner Neueste Nachrichten vom 18. 10. 1922, »Deutsch-völkische Tagung«.

257 Bei seiner Vernehmung durch die Münchner Polizei am 13. 1. 1923 behauptete Hitler, an seine politischen Gegner in Coburg sei »Geld ausbezahlt worden […], und zwar von einem bekannten Juden allein 90.000 M[ark]«. Als einige SA-Männer mit ihren Angreifern ins Gespräch gekommen seien, wäre »bei einem Teil der Arbeiter […] ein ersichtlicher innerer Umschwung« eingetreten. Während des »Deutschen Tags« sorgte dieses Gerücht dafür, dass der Kommissionsrat Abraham Friedmann am 15. 10. 1922 durch einen Trupp von 30 bis 50 SA-Männern solange beschimpft und mit dem Tode bedroht wurde, bis die Polizei die SA-Männer vertrieb. Friedmann hatte indes weder die SPD noch die KPD finanziell unterstützt, die offen gegen die NSDAP aufgetreten waren, sondern die DDP. Deutsche jüdischen Glaubens bildeten in Coburg eine winzige Minderheit; 1925 handelte es sich um 316 Menschen (1,3 % der Stadtbevölkerung).

Vgl. Russisches Kriegsarchiv Moskau (RGWA), fond 1355k, opis’, 1, delo 38, Privatkanzlei Adolf Hitler: Bayerisches Staatsministerium des Innern, Schreiben an das Bezirksamt Coburg vom 23. 10. 1922 (Zitat); Jäckel/ Kuhn (Hrsg.), Hitler, Dok. 457, Zitat S. 788; Erdmann, Coburg, S. 105 f.; Albrecht, Avantgarde, S. 81; Fromm, Juden, S. 180.

uns alle zusammen Genick und Knochen brächen. Freuen würde uns aber, dann wenigstens nicht allein, sondern in Gleichheit und Brüderlichkeit mit den roten Herrschaften ins Jenseits zu wandern.

Daraufhin fuhr der Zug sehr pünktlich ab, und wir kamen am nächsten Morgen wieder#1929: eingefügt: heil in München an.251

In Koburg wurde damit zum ersten Male seit dem Jahre 1914 die Gleichheit der Staatsbürger vor dem Gesetz wiederhergestellt.252 Denn wenn heute irgendein gimpelhafter höherer Beamter sich zu der Behauptung versteigt, daß der Staat das Leben seiner Bürger beschütze, dann traf dies für damals jedenfalls nicht zu; denn die Bürger mußten sich in jener Zeit vor den Repräsentanten des heutigen Staates verteidigen.

Die Bedeutung dieses Tages konnte in seinen#1944: seinen ersetzt durch: ihren Folgen zunächst gar nicht voll eingeschätzt werden.253 Nicht nur, daß die sieghafte S. A.#1937: S. A. ersetzt durch: SA. in ihrem Selbstvertrauen und im Glauben an die Richtigkeit ihrer Führung außerordentlich gehoben wurde, begann auch die Umwelt sich mit uns eingehender zu beschäftigen254, und viele erkannten zum ersten Male in der nationalsozialistischen Bewegung die Institution, die aller Wahrscheinlichkeit nach dereinst berufen sein würde, dem marxistischen Wahnsinn ein entsprechendes Ende zu bereiten.

Nur die Demokratie stöhnte, daß man es wagen konnte, sich nicht friedlich den Schädel einschlagen zu lassen, sondern daß wir uns in einer demokratischen Republik unterstanden hatten, einem brutalen Angriff mit Fäusten und Stöcken statt mit pazifistischen Gesängen entgegenzutreten.255

Die bürgerliche Presse im allgemeinen war teils jämmerlich, teils gemein, wie immer, und nur wenige aufrichtige Zeitungen begrüßten es, daß man wenigstens an einer Stelle den marxistischen Wegelagerern endlich das Handwerk gelegt hatte.256

In Koburg selbst aber hat immerhin ein Teil der marxistischen Arbeiterschaft, der übrigens selbst nur als verführt angesehen werden mußte257, durch die Fäuste nationalsozialistischer Arbeiter belehrt, einsehen gelernt, daß auch diese Arbeiter für Ideale kämpfen, da man sich erfahrungsgemäß nur für etwas, an das man glaubt und das man liebt, auch schlägt.