Staatliche Auslese der Tüchtigen <span class="pagenumber">[68]</span>

167 Die Forderung nach Chancengleichheit war fester Bestandteil der Verfassung des Deutschen Reichs vom 11. 8. 1919. Sie bestimmte in Artikel 146, dass »für die Aufnahme eines Kindes in eine bestimmte Schule« allein »Anlage und Neigung«, nicht aber »die wirtschaftliche und gesellschaftliche Stellung oder das Religionsbekenntnis seiner Eltern maßgebend« sein dürfe. Im Dritten Reich blieb die Politik der Chancengleichheit in wenigen Ansätzen stecken. Zwar existierten einige wenige nationalsozialistische Elite-Schulen, doch nahm die Zahl der Studenten aus unteren sozialen Schichten ab. Schulorganisatorische Reformen und finanzielle Fördermaßnahmen, die Kindern aus der Arbeiterschaft den sozialen Aufstieg in höhere Schulen und Hochschulen erleichtert hätten, blieben aus, während sich für Mädchen die Bildungschancen generell verschlechterten.

Vgl. RGBl. 1919/II, Zitat S. 1410; Zymek, Schulpolitik.

168 Das Ziel, auf dem Arbeitsmarkt die »besten Talente« und »fähigsten Köpfe« zu fördern, wurde im Dritten Reich durch eine systematische Privilegierung von Parteigängern der NSDAP unterlaufen. Davon profitierten insbesondere arbeitslose »Alte Kämpfer« – ein zeitgenössisch eher vage umrissener Personenkreis, dem vor allem die Angehörigen der SA und SS zugerechnet wurden, die schon vor 1933 ihren Organisationen beigetreten waren, ferner Mitglieder der NSDAP mit einer Mitgliedsnummer bis 100.000. Im Oktober 1933 wurde dieser Personenkreis auf die ersten 300.000 NSDAP-Mitglieder ausgeweitet. Ungeachtet ihrer vielfach mangelnden fachlichen Eignung wurden »Alte Kämpfer« bei der Vergabe von Arbeitsplätzen bevorzugt. Diese Privilegierung wurde vor allem damit begründet, dass sie aufgrund ihrer angeblichen oder tatsächlichen Opfer aus der »Kampfzeit« einen moralischen Anspruch auf »Wiedergutmachung« hätten. Zur leichteren Vermittlung »altbewährter« Parteigenossen wurden dabei häufig vorhandene Vorstrafenregister gelöscht. Nach 1933 hielten »Alte Kämpfer« insbesondere auf der unteren und mittleren Verwaltungsebene in staatlichen Stellen Einzug. Gefördert wurde diese Entwicklung durch das Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums vom 7. 4. 1933, das die Entfernung jüdischer und politisch missliebiger Staatsdiener bestimmte: Das Gesetz ermöglichte die fristlose Kündigung von Beamten »nicht arischer Abstammung« und Beamten, »die nach ihrer bisherigen politischen Betätigung nicht die Gewähr dafür« böten, »jederzeit rückhaltlos für den nationalen Staat« einzutreten.

Vgl. RGBl. 1933/I, S. 175 – 177; Bajohr, Parvenüs, S. 17 – 34; Schmitz-Berning, Vokabular, S. 26; Humann, Kämpfer.

169 Tatbereitschaft, Instinkt und Gefühl waren bereits im Ersten Weltkrieg von der deutschen Rechten als primäre Kennzeichen wahrer Staatsmänner hervorgehoben worden. 1917 rechnete der Vorsitzende des Alldeutschen Verbands Heinrich Claß »das nicht erlernbare, sondern angeborene Erfühlen der geistigen, sittlichen und wirtschaftlichen Bedürfnisse des eigenen Volkes« zur »Fülle« jener Eigenschaften, die echte Staatsmänner besitzen müssten. Was der Staatsmann in die Tat umsetze, müsse er »zuerst erfühl[en]«, ehe er es »verstandesgemäß« prüfe. Die Hoffnung auf den Auftritt eines »großen Mannes«, »Führers« oder »Erlösers« war fester Bestandteil der politischen Kultur der Weimarer Republik. Reichstagsabgeordnete wurden in der Öffentlichkeit häufig nicht nach ihrem parlamentarischen Geschick, sondern nach ihrer Eignung zu politischem »Führertum« beurteilt. Völkische und nationalkonservative Autoren idealisierten politisches »Führertum« als Gegenmodell zum politischen System der Republik, das ihnen als dysfunktional und »undeutsch« erschien.

Vgl. Claß, Staatskunst, Zitat S. 28; Moeller van den Bruck, Reich, S. 306 – 308; Sontheimer, Denken, S. 268 – 280; Schreiner, Formen; Mergel, Kultur, S. 367 – 374; Kap. II/8, Anm. 6.

lente aus untersten Schichten die Möglichkeit einer höheren Ausbildung finden, als dies in Europa der Fall ist.

Zum Erfinden genügt eben nicht eingetrichtertes Wissen, sondern nur das vom Talent beseelte. Darauf aber legt man bei uns heute keinen Wert; die gute Note allein soll es ausmachen.

Auch hier wird der völkische Staat einst erziehend einzugreifen haben. Er hat nicht die Aufgabe, einer bestehenden Gesellschaftsklasse den maßgebenden Einfluß zu wahren, sondern die Aufgabe, aus der Summe aller Volksgenossen die fähigsten Köpfe herauszuholen und zu Amt und Würden zu bringen. Er hat nicht nur die Verpflichtung, dem Durchschnittskind in der Volksschule eine bestimmte Erziehung zu geben, sondern auch die Pflicht, das Talent auf die Bahn zu bringen, auf die es gehört. Er hat es vor allem als seine höchste Aufgabe zu betrachten, die Tore der staatlichen höheren Unterrichtsanstalten jeder Begabung zu öffnen, ganz gleich, aus welchen Kreisen sie stammen möge.167 Er muß diese Aufgabe erfüllen, da nur so aus der Schicht von Repräsentanten eines toten Wissens die geniale Führung der Nation erwachsen kann.168

Auch aus einem weiteren Grunde#1939: Grunde ersetzt durch: Grund;
1944: Grunde muß der Staat in dieser Richtung Vorsorge treffen: Unsere geistigen Schichten sind besonders in Deutschland so in sich abgeschlossen und verkalkt, daß ihnen die lebendige Verbindung nach unten fehlt. Dies rächt sich nach zwei Seiten hin: Erstens fehlt ihnen dadurch das Verständnis und die Empfindung für die breite Masse. Sie sind zu lange schon aus diesem Zusammenhang herausgerissen, als daß sie noch das nötige psychologische Verständnis für das Volk besitzen könnten. Sie sind volksfremd geworden. Es fehlt diesen oberen Schichten aber zweitens auch die nötige Willenskraft. Denn diese ist in abgekasteten Intelligenzkreisen immer schwächer, als in der Masse des primitiven Volkes. An wissenschaftlicher Bildung aber hat es uns Deutschen wahrhaftiger Gott nie gefehlt; desto mehr jedoch an Willens- und Entschlußkraft. Je »geistvoller« zum Beispiel unsere Staatsmänner waren, um so schwächlicher war meistens ihre wirkliche Leistung.169 Die politische Vorbereitung sowohl als die technische Rüstung für