15. Kapitel
Notwehr als Recht

Dieses Kapitel sollte ursprünglich als Schlusskapitel des ersten Bands von Mein Kampf dienen. Es steht noch ganz im Zeichen dreier großer Themen: Hitlers »Abrechnung« mit seinen Gegnern des Jahres 1923, der französisch-belgischen Ruhrbesetzung sowie des gescheiterten Putschs vom 8./9. November 1923. Dies erklärt auch die Überschrift des Kapitels. Sie greift eine Aussage auf, die Hitler am 13. Dezember 1923 während seiner Vernehmung durch den zweiten Staatsanwalt Hans Ehard getätigt hat.Nach Ehards Aufzeichnungen erklärte Hitler, es gebe »neben dem formalen Recht noch ein natürliches Recht des Volkes, das höher stehe wie die Verfassung, das Recht der Notwehr oder des Notstandes, das eine Nation berechtige, ihr Verhängnis auch gegen den Willen eines unfähigen Parlaments abzuschütteln«1. Diese Genese erklärt auch die ungewöhnliche Widmung am Ende des Kapitels, wo an den bereits Ende Dezember 1923 verstorbenen Dietrich Eckart erinnert wird.2 In einem Werbeflugblatt vom Juni 1924 war das Kapitel noch mit dem Titel »Das Jahr 1923« angekündigt worden. Bei der Aufteilung des Buchs in zwei Bände wurde es allerdings herausgenommen und für den zweiten Band zurückgestellt, da es Hitler und der neu gegründeten NSDAP politische Schwierigkeiten hätte bereiten können.3

Die Hinweise auf den Locarno-Vertrag vom Dezember 1925 am Beginn des Kapitels zeigen freilich, dass die einleitenden Passagen erst später verfasst worden sind. Der Rest des Kapitels entstand dagegen bereits in der ersten Junihälfte 1924 und weist bis in sprachliche Details Parallelen zu Hitlers Artikel Warum mußte ein 8. November kommen? auf, der im April 1924 in der Zeitschrift Deutschlands Erneuerung erschien.4 Inhaltlich beschäftigt sich dieses Kapitel mit der Politik der Reichsregierung im Jahr 1923 infolge der französisch-belgischen Ruhrbesetzung, während die politische Entwicklung in Bayern, die in Hitlers Putschversuch gipfelte, hingegen ausgespart bleibt.5 Damit verlagerte Hitler die ursprünglich geplante »Abrechnung« mit seinen Gegnern von der bayerischen auf eine nationale und internationale Ebene; nach dem bereits erteilten Redeverbot vom Frühjahr 1925 wollte er keinen Anlass für weitere Maßnahmen gegen sich oder die NSDAP liefern.6

Für Hitler war dieses Kapitel von besonderer Bedeutung. Ein Auszug erschien am 9. November 1926 – einem Tag, der im »nationalsozialistischen Kalender« bald zu einem zentralen Gedenktag werden sollte – im Völkischen Beobachter.7 Als der Illustrierte Beobachter im Juni 1930 anstelle von Hitlers Beiträgen zur »Politik der Woche« immer häufiger Auszüge aus dessen Buch veröffentlichte, kamen Passagen aus diesem Kapitel als einzige gleich zweimal zum Abdruck.8 Auch in den Diskussionen vor und nach 1945 um Widerstandsrecht und Widerstandpflicht gegenüber dem NS-Regime wurde gelegentlich auf dieses Kapitel verwiesen.9