Reinster Idealismus tiefste Erkenntnis <span class="pagenumber">[316]</span>

77 Das Konzept eines Staats, der auf der strengen Pflicht des Individuums gegenüber der Gemeinschaft aufgebaut sein müsse, hat eine lange Tradition. Bereits Platon hatte in seiner Schrift Politeia das Modell eines »idealen«, ganz auf das Gemeinwohl ausgerichteten Staats entworfen. Platon entwickelte sogar frühe eugenische Gedanken zur Züchtung einer Staatselite: So sollte die Zeugung von Kindern nur mit einer staatlichen Genehmigung erlaubt sein. Außerdem sollte der Staat über die Wahl des Partners und den Fortpflanzungszeitpunkt entscheiden. Dass manche Gedanken Platons bei den Nationalsozialisten Anklang fanden, belegt Alfred Rosenbergs Schrift Das Wesensgefüge des Nationalsozialismus (1932). Rosenberg behauptete, Platon habe in der hellenischen Spätzeit »einen strengen Staat auf rassischer Grundlage als Plan« entworfen, »wohl mit dem Unterbewußtsein, daß das nordische Blut der Griechen durch Rassenmischungen und Kriege nahezu ausgerottet war«. Tatsächlich orientierte sich Platons Denken an der ständischen Ordnung: Nicht Geburt oder Herkunft, sondern Leistung sollte den Zugang zur Aristokratie öffnen.

Ähnliches gilt auch für das preußische Staatsideal, das vielen Konservativen und Nationalisten in der Weimarer Republik vor Augen stand. Oswald Spengler schrieb in Preußentum und Sozialismus: »Der deutsche, genauer preußische Instinkt war: die Macht gehört dem Ganzen. Der einzelne dient ihm. Das Ganze ist souverän. Der König ist nur der erste Diener seines Staates (Friedrich der Große). Jeder erhält seinen Platz. Es wird befohlen und gehorcht. Dies ist, seit dem 18. Jahrhundert, autoritativer Sozialismus, dem Wesen nach illiberal und antidemokratisch, soweit es sich um englischen Liberalismus und französische Demokratie handelt.« Rassismus spielte bei Spengler keine zentrale Rolle. In seiner Schrift Neubau des Deutschen Reiches (1924) erteilte Spengler einer Politik auf rassentheoretischer Grundlage eine klare Absage: »Rassegefühle mögen noch so allverbreitet, tief und natürlich sein, sie sind keine Unterlage für große Politik, mit der ein Land regiert oder gerettet werden soll. Jede Staatskunst und jeder gesunde Volksinstinkt nimmt Begabungen, wo er sie findet, die Franzosen in Napoleon einen Italiener, die englischen Konservativen in Disraeli einen Juden, der russische Adel und Klerus in Katharina II. eine Deutsche.«

Vgl. Rosenberg, Wesensgefüge, Zitat S. 11; Spengler, Preußentum, Zitat S. 15; Spengler, Neubau, Zitat S. 17; Kuhn, Plato, S. 22 f., 33 f.; Galton, Theories, S. 264 f.; Schwaabe, Theorie, S. 28 f.

79 Erneut subjektiviert Hitler die Natur. Diese Denkweise hatte verschiedene Vorläufer: Bereits Houston Stewart Chamberlain hatte 1900 geschrieben, ihn leite ein »Vertrauen auf die allgütige Mutter Natur«; sie sei »die Quelle unserer Erfindungsgabe, aller unserer Genialität, sogar der ganzen Originalität unserer Civilisation«. Allerdings wirke die Natur nicht nach normativen Kriterien; sie sei »weder moralisch, noch vernünftig«. »Die Begriffe Güte, Mitleid, Pflicht, Tugend, Reue sind ihr ebenso fremd wie vernünftige, symmetrische, einfach zweckmässige Anordnung.« In Julius Langbehns Rembrandt als Erzieher heißt es: »Nur ein einziges Mittel giebt es, um unfehlbar zu sein: sich ganz an die Natur zu halten, sich ganz mit der Natur zu identifiziren, allein die Natur reden zu lassen; Wer und Was je groß geworden ist, ist durch dieses Mittel groß geworden.« Der spätere SS-Führer Hajo Freiherr von Hadeln fasste 1935 in seiner Doktorarbeit über die beiden grundlegenden programmatischen NS-Schriften Mein Kampf und Der Mythus des 20. Jahrhunderts zusammen: »Die Natur ist dem Nationalsozialisten der Urquell aller Erkenntnis«; ihr »eindeutige[r] Befehl« laute: »Die Rassen haben sich nicht untereinander zu vermischen!«

Vgl. Langbehn, Rembrandt, Zitat S. 232; Chamberlain, Rasse, Zitat S. 70; Chamberlain, Grundlagen, Bd. 2, Zitate S. 1117, 1195; Hadeln, Wesen, Zitate S. 17, 22; Anm. 10 in diesem Kapitel.

80 Hitler rekurriert hier auf die Philosophie des deutschen Idealismus des 18. Jahrhunderts, übernimmt jedoch nur deren Begrifflichkeit, um sie mit anderen Inhalten zu füllen. Wenn Hitler etwa von »Pflichterfüllung« spricht und sie als Unterwerfung darstellt, erinnert die Verwendung des Pflichtbegriffs nur äußerlich an Immanuel Kant und seinen kategorischen Imperativ; Kants Begriff der Pflicht ist ein Unterwerfungsverhältnis bis zur Selbstaufgabe fremd. Laut Kant kann jeder seine persönlichen Zwecke in Übereinstimmung mit denen der Allgemeinheit erreichen. Hitlers Vorstellung von einer Ethik der Aufopferung findet im deutschen Idealismus keine Entsprechung. Das »letzte Wollen der Natur« bestand in Kants anthropologischen Schriften sogar darin, das Eigeninteresse und den sich daraus ergebenden Antagonismus zwischen den Individuen zum Motor des gesellschaftlichen Fortschritts zu erklären. Hitlers Geistesbegriff und seine Interpretation des Universums erinnern an Georg Wilhelm Friedrich Hegel, der schrieb: »Die Kraft des Geistes ist nur so groß als ihre Äußerung, seine Tiefe nur so tief, als er in seiner Auslegung sich auszubreiten und sich zu verlieren getraut.« Und: »Das Wahre ist das Ganze. Das Ganze ist aber nur das durch seine Entwicklung sich vollendende Wesen.« Hegel ging es jedoch nicht um »das Vorrecht der Kraft und Stärke«, im Gegenteil: Die Philosophen des deutschen Idealismus wollten eine »Integration der Geschichte in die Philosophie« und sahen ihre Gedanken nur als Teil einer Etappe auf dem Weg zu materiellem und moralischem Fortschritt.

Vgl. IfZ-Archiv, ED 100/78: Tagebuch Walther Hewel, 1941, vollständige Abschrift, Bl. 113 (11. 7. 1941); Kant, Werkausgabe, Bd. 7, S. 140, Bd. 8, S. 328; Hegel, Werke, Bd. 3, Zitate S. 18, 24; Hitler, Monologe, S. 411; Sandkühler, Handbuch, Zitat S. 14. 

Gerade unsere deutsche Sprache aber besitzt ein Wort, das in herrlicher Weise das Handeln nach diesem Sinne bezeichnet: Pflichterfüllung; das heißt, nicht sich selbst genügen, sondern der Allgemeinheit dienen; dies ist Pflicht# 1930: dienen; dies ist Pflicht ersetzt durch: dienen .77

Die grundsätzliche Gesinnung nun# 1930: gestrichen: nun , aus der ein solches Handeln erwächst, nennen wir zum Unterschied des# 1930: des ersetzt durch: vom;
1944: von Egoismus, des Eigennutzes# 1930: des Eigennutzes ersetzt durch: vom Eigennutz;
1944: von Eigennutz , Idealismus. Unter dem verstehen wir# 1926: Unter dem verstehen wir ersetzt durch: Wir verstehen darunter nur die Aufopferungsfähigkeit des einzelnen# 1926: einzelnen ersetzt durch: Einzelnen für die Gesamtheit, für seine Mitmenschen.

Wie nötig aber ist es, immer wieder zu erkennen, daß der Idealismus nicht etwa überflüssige oder auch nur entbehrliche Gefühlsäußerungen# 1930: etwa überflüssige oder auch nur entbehrliche Gefühlsäußerungen ersetzt durch: etwa eine überflüssige Gefühlsäußerung darstellt, sondern daß er in Wahrheit die Voraussetzung zu dem war, ist und sein wird, was wir mit menschlicher Kultur bezeichnen, ja daß er allein erst den Begriff »Mensch« geschaffen hat. Dieser inneren Gesinnung verdankt der Arier seine Stellung auf dieser Welt, und ihr verdankt die Welt den Menschen; denn nur# 1930: gestrichen: nur sie allein hat aus dem reinen Geist die schöpferische Kraft geformt, die nun# 1926: gestrichen: nun in einer einzigartigen# 1930: einer einzigartigen ersetzt durch: einzigartiger Vermählung von roher Faust und genialem Intellekt die Denkmäler der menschlichen Kultur erschuf.78

Ohne seine ideale Gesinnung wären alle, auch die blendendsten Fähigkeiten des Geistes eben# 1926: gestrichen: eben nur Geist# 1939: gestrichen: nur Geist; 1944: wieder eingefügt: nur Geist an sich,# 1930: eingefügt: äußerer Schein ohne inneren Wert, jedoch niemals schöpferische Kraft, äußerer Schein ohne inneren Wert# 1930: gestrichen: äußerer Schein ohne inneren Wert .

Da nun# 1926: gestrichen: nun aber wahrer Idealismus# 1930: Idealismus ersetzt durch: Iedalismus [sic!];
1933: Idealismus nichts weiter ist als die Unterordnung der Interessen und des Lebens des einzelnen# 1926: einzelnen ersetzt durch: Einzelnen;
1930: einzelnen unter die Gesamtheit, dieses# 1930: dieses ersetzt durch: dies aber wieder die Voraussetzung für jede Art der# 1930: jede Art der ersetzt durch: die Bildung organisatorischer Formen# 1930: eingefügt: jeder Art darstellt, entspricht er im innersten Grunde dem letzten Wollen der Natur.79 Er allein führt die Menschen zur freiwilligen Anerkennung des Vorrechtes der Kraft und der Stärke und läßt sie so zu einem Stäubchen jener Ordnung werden, die das ganze Universum formt und bildet.

Reinster Idealismus ist# 1930: ist ersetzt durch: deckt sich unbewußt tiefste# 1930: tiefste ersetzt durch: mit tiefster Erkenntnis.80

Wie sehr dies zutrifft und wie wenig wahrer Idealismus mit spielerischer Phantasterei zu tun hat, kann man sofort erkennen, wenn man das unverdorbene Kind, den gesunden Knaben z.B.# 1937: z. B. ersetzt durch: zum Beispiel;
1939: z. B. ;
1944: zum Beispiel , ur-