Die parlamentarischen Schieber <span class="pagenumber">[86]</span>

108 Österreich-Ungarn besaß auch nach 1867 keine wirkliche Verfassung. Konstitutionelle Grundlage der westlichen Reichshälfte bildeten die fünf Staatsgrundgesetze sowie das Delegationsgesetz vom 21. 12. 1867. Artikel 3 des Staatsgrundgesetzes über die Ausübung der Regierung und der Vollzugsgewalt legte fest: »Der Kaiser ernennt und entläßt die Minister […].« Das Amt des Ministerpräsidenten wird jedoch in keinem der genannten Gesetze erwähnt. Vielmehr war dessen Ernennung bereits in einem früheren Gesetz geregelt worden, dem Statut für den Staatsrath vom 26. 2. 1861.  Dort heißt es in Artikel 3: »Der Kaiser ernennt den Staatsraths-Präsidenten und die Staatsräthe.« Der Staatsrat diente damals als Kabinett des österreichischen Monarchen, seine Funktion übernahm seit 1867 der Ministerrat für Gemeinsame Angelegenheiten der Österreichisch-Ungarischen Monarchie. Franz Joseph I. konnte bei seiner Ernennung des Ministerpräsidenten für die österreichische Reichshälfte nach eigenem Ermessen vorgehen. Häufig, aber nicht immer orientierte er sich an den »konstitutionellen Grundsätzen«; das bedeutete, dass seine Wahl »der Auffassung des Reichsrates genehm war«. In die Position des Ministerpräsidenten der ungarischen Reichshälfte war Franz Joseph I. bestrebt, einen Mann, »der den Gedanken des Gesamtstaates am energischsten vertrat und dabei doch im Lande Ungarn selbst über den entsprechenden Einfluß verfügte«, einzusetzen.

Vgl. RGBl. Kaiserliches Patent Nr. 22, Beilage, Zitat S. 314; RGBl. Nr. 145, Gesetz vom 21. Dezember 1867, Zitat S. 400; Novotny, Monarch, Zitate S. 69, 88.

109 Die Regierung der Habsburgermonarchie lag in erster Linie beim Kaiser, der »die Regierungsgewalt durch verantwortliche Minister und die denselben untergeordneten Beamten und Bestellten« ausübte. Terminologisch wurde dies dadurch explizit unterstrichen, dass die Minister in ihrer Gesamtheit als »die Regierung Seiner Majestät« auftraten. Von Seiten des Reichsrats hatten weder das Abgeordnetenhaus noch das Herrenhaus irgendeinen gesetzlich verbürgten Einfluss auf die Regierungsbildung; gleichwohl blieben die Interessen der Parlamentarier nicht völlig unberücksichtigt. Das Prozedere der Regierungsbildung war allerdings so angelegt, dass sich die Regierung »weder zwingend noch primär aus Parlamentariern und damit Parteianhängern« zusammensetzte.

Vgl. RGBl. Nr. 145, Staatsgrundgesetz vom 21. Dezember 1867, Zitate S. 400; Brauneder, Verfassungsentwicklung, S. 207 – 216, Zitat S. 209.

110 Seit 1893 wechselten die Ministerpräsidenten in Cisleithanien häufig, während vorher einzelne Ministerpräsidenten deutlich länger regiert hatten; so reichte die Amtszeit von Eduard Graf Taaffe immerhin von 1879 bis 1893.  Nach seiner Entlassung aber wurden bis 1914 nicht weniger als vierzehn Kabinette gebildet; der transleithanische Teil kam im selben Zeitraum auf zehn Kabinette. Diese Instabilität der Regierungen war nicht zuletzt eine Folge der Krise des parlamentarischen Systems, der nationalistischen Interessen der Parteien und ihrer nicht enden wollenden Obstruktionspolitik. Ihre Ziele beschränkten sich auf »die Durchsetzung ihrer mehr oder weniger berechtigten Forderungen im Sinne einer Besserstellung von Einzelgruppen. Selten und nur ausnahmsweise traten Parteiführer oder Parlamentarier auf, die im Parlament und im Parlamentarismus einen politischen Wert an sich sahen und dafür kämpften. Es war die Dominanz der Einzelinteressen und der Mangel an Gemeinschaftssinn über die eigene Nation, das eigene Land und die eigene Partei hinaus, die den österreichischen Reichsrat auf einer zu schmalen Basis entstehen ließen, ihn in seine Krise führten und in einer hemmungslosen Obstruktionspolitik zugrunde richteten.«

Vgl. Sked, Decline, S. 187; Rumpler, Parlament, S. 812 – 894, Zitat S. 894; Anm. 77 in diesem Kapitel.

etwa einen Einser ergeben könnte. Und in dieser Richtung ist der Instinkt um so schärfer, je mehr er auch in allem# 1944: allem ersetzt durch: allen anderen fehlen mag.

So wird die Folge eine immer mehr um sich greifende geistige Verarmung der führenden Schichten sein. Was dabei für die Nation und den Staat herauskommt, kann jeder selbst ermessen, soweit er nicht persönlich zu dieser Sorte von »Führern« gehört.

Das alte Österreich besaß das parlamentarische Regiment bereits in Reinkultur.

Wohl wurden die jeweiligen Ministerpräsidenten vom Kaiser und König ernannt108, allein schon diese Ernennung war nichts anderes als die Vollstreckung parlamentarischen Wollens. Das Feilschen und Handeln aber um die einzelnen Ministerposten war schon westliche Demokratie von reinstem Wasser.109 Die Ergebnisse entsprachen aber# 1926: gestrichen: aber auch den angewandten Grundsätzen. Besonders der Wechsel der einzelnen Persönlichkeiten# 1930: Persönlichkeiten ersetzt durch: Persönlichkeit;
1944: Persönlichkeiten trat schon in immer kürzeren Fristen ein, um endlich zu einem wahrhaftigen# 1944: wahrhaftigen ersetzt durch: wahrhaften Jagen zu werden.110 In demselben Maße sank die Größe der jeweiligen »Staatsmänner« immer mehr zusammen, bis endlich überhaupt nur jener kleine Typ von parlamentarischen Schiebern übrigblieb, deren staatsmännischer Wert nur mehr nach ihrer Fähigkeit gemessen und anerkannt wurde, mit der es ihnen gelang, die jeweiligen Koalitionen zusammenzukleistern, also jene kleinsten politischen Handelsgeschäfte durchzuführen, die ja allein die Eignung dieser Volksvertreter für praktische Arbeit zu begründen vermögen.

So konnte einem die Wiener Schule auf diesem Gebiete die besten Einblicke# 1937: Einblicke ersetzt durch: Eindrücke;
1944: Einblicke vermitteln.

Was mich nicht weniger anzog, war der Vergleich zwischen dem vorhandenen Können und Wissen dieser Volksvertreter und den Aufgaben, die ihrer harrten. Freilich mußte man sich dann aber, man mochte wollen oder nicht, mit dem geistigen Horizont dieser Auserwählten der Völker selber näher beschäftigen, wobei es sich dann auch# 1930: gestrichen: auch gar nicht mehr umgehen ließ, auch den Vorgängen, die zur Entdeckung dieser Prachterscheinungen unseres öffentlichen Lebens führen, die nötige Beachtung zu schenken.