Das unsoziale Wien <span class="pagenumber">[21]</span>

34 Begriffe wie Hand- und Kopfarbeiter waren schon im 19. Jahrhundert geläufig und wurden etwa von Karl Marx und Friedrich Naumann verwendet. Bei Hitler finden sie sich bereits früh in abgewandelter Form: »Arbeiter der Faust«, »Arbeiter des Geistes« bzw. »Arbeiter der Stirn«. Am 19. 6. 1920 verkündete er etwa im oberbayerischen Kolbermoor: »Wer sich der Nationalsozialistischen Arbeiterpartei anschließen will, der muß vor allem eines lernen, den Menschen nach seiner Leistung einzuschätzen, und nicht nach dem Geburtsschein oder dem Kittel, den er trägt. Er muß lernen zu verstehen, daß der Arbeiter der Faust so nötig ist wie der Arbeiter des Geistes, beide an ihrem Platz.« Am 24. 4. 1923 forderte er in einer Rede in München: »Sie müssen sich gegenseitig wieder achten lernen, der Arbeiter der Stirne den Arbeiter der Faust und umgekehrt.« Im Dritten Reich waren »Arbeiter der Stirn« und »Arbeiter der Faust« zentrale Propagandabegriffe, die nicht nur in Reden prominenter NS-Führer, sondern auch im Schrifttum immer wieder auftauchten. 1934 veröffentlichte etwa der Verleger und Heimatforscher Erich Matthes das Buch Arbeiter der Stirn und Faust. Ein nationales Besinnungsbuch.

Vgl. VB vom 5. 6. 1921, »Der Beginn der Judendiktatur«; Jäckel/ Kuhn (Hrsg.), Hitler, Dok. 110, 519, Zitate S. 149, 913; Matthes, Arbeiter; Schmitz-Berning, Vokabular, S. 40 f.

35 Hitler kehrte Mitte Februar 1908 nach Wien zurück, vermutlich am 12.  2.  Zunächst war seine finanzielle Situation nicht so prekär, wie er in Mein Kampf glauben machen wollte: Das mütterliche Erbe (in unbekannter Höhe, höchstens aber etwa 2.000 Kronen zusammen für Hitler und seine Schwester Paula) sowie seine Waisenrente (25 Kronen monatlich) reichten etwa ein Jahr lang für einen bescheidenen Lebensunterhalt in Wien. Doch schrumpfte das Budget des jungen, arbeitslosen Hitler kontinuierlich, auch wegen seiner zahlreichen Opernbesuche. Schon im August 1908 bat Hitler seine Tante Johanna Pölzl um Geld, die ihm daraufhin ein Darlehen über 924 Kronen gewährte. 1911 stellte das Bezirksgericht Linz fest, dass Hitler zu seiner Ausbildung »grössere Beträge durch seine Tante Johanna Pölzl ausgefolgt erhielt«. Für das Jahr 1909 existieren fast keine Quellen über Hitlers Leben; als sicher gilt aber, dass damals seine finanziellen Mittel erschöpft waren.

Vgl. Jäckel/ Kuhn (Hrsg.), Hitler, Dok. 9; Kubizek, Hitler, S. 229, 285; Hamann, Wien, S. 58, 196, 198, Zitat S. 250; Kershaw, Hitler, Bd. 1, S. 57 f., 70 – 75, 81 f.; Ullrich, Hitler, Bd. 1, S. 41 f., 51 f.

Arbeiter der Faust34 oft tiefer, als man denkt. Der Grund dieser, sagen wir fast »Feindschaft«# 1926: »Feindschaft« ersetzt durch: Feindschaft , liegt in der Furcht einer Gesellschaftsgruppe, die sich erst ganz kurze Zeit aus dem Niveau der Handarbeiter herausgehoben hatte# 1930: hatte ersetzt durch: hat , wieder zurückzusinken in den alten, wenig geachteten Stand, oder wenigstens noch zu ihm gerechnet zu werden. Dazu kommt noch bei vielen die widerliche Erinnerung an das kulturelle Elend dieser unteren Klasse# 1944: Klasse ersetzt durch: Klassen , die häufige Roheit des Umgangs untereinander, wobei die eigene, auch noch# 1930: eingefügt: so geringe Stellung im gesellschaftlichen Leben jede Berührung mit dieser überwundenen Kultur- und Lebensstufe zu einer unerträglichen Belastung werden läßt.

So kommt es, daß häufig der Höherstehende unbefangener zu seinem letzten Mitmenschen herabsteigt, als es dem »Emporkömmling« auch nur möglich erscheint.

Denn Emporkömmling ist nun einmal jeder, der sich durch eigene Tatkraft aus einer bisherigen Lebensstellung in eine höhere emporringt.

Endlich aber läßt dieser häufig sehr herbe Kampf das Mitleid absterben. Das eigene schmerzliche Ringen um das Dasein tötet die Empfindung für das Elend der Zurückgebliebenen.

Mit mir besaß [sic!] das Schicksal in dieser Hinsicht Erbarmen. Indem es mich zwang, wieder in diese Welt der Armut und der Unsicherheit zurückzukehren, die einst der Vater im Laufe seines Lebens schon verlassen hatte, zog es mir die Scheuklappen einer beschränkten kleinbürgerlichen Erziehung von den Augen. Nun erst lernte ich die Menschen kennen; lernte unterscheiden zwischen hohlem Scheine oder brutalem Äußeren und ihrem inneren Wesen.35

Wien gehörte nach der Jahrhundertwende schon zu den sozial ungünstigen# 1944: ungünstigen ersetzt durch: ungünstigsten Städten.36

Strahlender Reichtum und abstoßende Armut lösten einander in schroffem Wechsel ab. Im Zentrum und in den inneren Bezirken37 fühlte man so recht den Pulsschlag des 52-Millionen-Reiches, mit all dem bedenklichen Zauber des Nationalitätenstaates.38 Der