Verfolgung unliebsamer Warner <span class="pagenumber">[335]</span>

14 In Wirklichkeit führte das am 29. 8. 1924 vom Reichstag ratifizierte Dawes-Abkommen zu einer spürbaren wirtschaftlichen Erholung Deutschlands und infolgedessen auch zu einer Verbesserung der eklatanten Versorgungskrise der frühen 1920er Jahre. Durch das Abkommen wurden die Reparationszahlungen der tatsächlichen Leistungsfähigkeit der deutschen Wirtschaft angeglichen, außerdem erhielt Deutschland eine internationale Anleihe von 800 Millionen Reichsmark. Bis 1929 flossen überdies 21 Milliarden Reichsmark an ausländischen Krediten ins Reich. Doch nicht nur dies ignoriert Hitlers Darstellung: Mit der Ausgabe der Rentenmark seit dem 15. 11. 1923 konnte auch die verheerende Hyperinflation beendet werden, zudem überwand die Einführung der Reichsmark durch das Münzgesetz vom 30. 8. 1924 die Währungskrise schließlich endgültig und trug so entscheidend zur wirtschaftlichen (und damit auch politischen) Stabilisierung der Republik bei. Gerade in den Jahren 1924, 1925 und 1927 gab es ein merkliches Wirtschaftswachstum, das sich nicht zuletzt in deutlich steigenden Reallöhnen der Industriearbeiter manifestierte. Auch Hitlers Behauptung, dass es speziell seit dem Vertrag von Locarno zu einer Verelendung der deutschen Bevölkerung gekommen sei, entbehrt jeglicher Grundlage, zielte das Vertragswerk doch auf sicherheitspolitische und gerade nicht auf ökonomische Regelungen.

Vgl. RGBl. 1924/II, S. 254 – 257; Knortz, Wirtschaftsgeschichte, bes.S. 56 – 75; Büttner, Weimar, bes.S. 177 – 181, 350 – 354, 364 – 374, 824 f.; Kap. I/10, Anm. 50, 131.

16 Anlehnung an die Formulierung »Gevatter Schneider und Handschuhmacher« aus Friedrich Schillers Wallensteins Lager (1798). Sie findet sich auch in Arthur Schopenhauers Schrift Parerga und Paralipomena (1851), in der Schopenhauer gegen den Einfluss von Laienrichtern in Gerichtsprozessen polemisiert: Statt »gelehrter und geübter Kriminalrichter, welche unter täglicher Entwirrung der von Dieben, Mördern und Gaunern versuchten Schliche und Finten grau geworden« seien, würden in Schwurgerichten »Gevatter Schneider und Handschuhmacher zu Gerichte sitzen, um mit ihrem plumpen, rohen, ungeübten, tölpelhaften, ja nicht einmal einer anhaltenden Aufmerksamkeit gewohnten Verstande die Wahrheit aus dem täuschenden Gewebe des Truges und Scheines herauszufinden«. Auch Dietrich Eckart zitierte Schillers Worte in seinem Pamphlet Der Bolschewismus von Moses bis Lenin (1924).

Mit der Abwandlung »Sattlermeister« statt »Schneider« zielte Hitler auf Reichspräsident Friedrich Ebert, der nach der Volksschule das Sattlerhandwerk erlernt hatte und 1889 Schriftführer des Sattlerverbands in Hannover geworden war. Diese Polemik war in der damaligen Rechten weitverbreitet. Gerechter urteilende Zeitgenossen registrierten stattdessen respektvoll die bemerkenswerte Karriere, die Ebert aus einfachen Verhältnissen heraus gelungen war. Der britische Botschafter in Berlin, Edgar Vincent Lord D’Abernon, notierte am 15. 1. 1924 nach einem Empfang für das Ehepaar Ebert: »Wenn man sich überlegt, daß er ein Sattlermeister war und daß sie aus ganz kleinen Verhältnissen stammt, setzt einen die Würde und Zurückhaltung ihres Benehmens in Erstaunen.«

Vgl. Schiller, Werke, Bd. 8, Zitat S. 36; Schopenhauer, Werke, Bd. 5, Zitat S. 305; Eckart, Bolschewismus, S. 27; D’Abernon, Botschafter, Bd. 3, Zitat S. 48; Pritzkow, Schopenhauer-Zitate, S. 191; Mühlhausen, Ebert, S. 44 f., 47, 181, 183, 185; Kap. I/10, Anm. 170.

einer höheren Warte aus betrachtet, von einem einzigen Glück in diesem Jammer reden, dem Glück, daß man wohl Menschen zu#1929: gestrichen: zu betören, den Himmel aber nicht bestechen konnte. Denn dessen Segen blieb aus: Not und Sorge sind seitdem die ständigen Begleiter unseres Volkes geworden, und unser einziger treuer Verbündeter ist das Elend.14 Das Schicksal hat auch in diesem Falle keine Ausnahme gemacht, sondern uns gegeben, was wir verdienten. Da wir die Ehre nicht mehr zu schätzen wissen, lehrt es uns wenigstens, die Freiheit am Brote#1937: eingefügt: zu; 1939: wieder gestrichen: zu würdigen. Nach Brot haben die Menschen nun schon zu rufen gelernt, um Freiheit aber werden sie eines Tages noch beten.

So bitter und so ersichtlich der Zusammenbruch unseres Volkes in den Jahren nach 1918 auch war, so entschlossen hatte man gerade in dieser Zeit jeden auf das heftigste verfolgt, der sich unterstand, das, was später immer eingetroffen ist, schon damals zu prophezeien.15 So erbärmlich schlecht die Leitung unseres Volkes gewesen ist, ebenso eingebildet war sie auch, und besonders dann, wenn es sich um das Abtun unliebsamer, weil unangenehmer Warner handelte. Da konnte man es (und man kann es auch heute noch!) erleben, daß sich die größten parlamentarischen Strohköpfe, wirkliche Gevatter Sattlermeister und Handschuhmacher16 – nicht bloß dem Beruf nach, was gar nichts sagen würde – plötzlich auf das Piedestal17 des Staatsmannes emporhoben, um von dort herunter dann die kleinen Sterblichen abzukanzeln. Es tat und tut dabei gar nichts zur Sache, daß ein solcher »Staatsmann« zumeist schon im sechsten Monat18 seiner Kunst als der windigste Murkser, vom Spott und Hohn der ganzen übrigen Welt umhallt, entlarvt ist, weder ein noch aus weiß und den untrüglichen Beweis für seine vollständige Unfähigkeit schlagend erbracht hat! Nein, das tut gar nichts zur Sache, im Gegenteil: je mehr es den parlamentarischen Staatsmännern dieser Republik an wirklichen Leistungen gebricht, um so wütender verfolgen sie dafür diejenigen, die Leistungen von ihnen erwarten, die das Versagen ihrer bisherigen Tätigkeit festzustellen sich erfrechen und den Mißerfolg ihrer zukünftigen vorauszusagen#1944: vorauszusagen ersetzt durch: voraussagen.19 Nagelt man aber einen solchen parlamentarischen Ehrenmann einmal endgültig fest, und kann der Staatskünstler dann wirklich den Zusammenbruch seiner ganzen