Rote Demonstration <span class="pagenumber">[198]</span>

245 Bei der Reichstagswahl vom 6. 6. 1920 waren die Linksparteien im Freistaat Coburg als stärkste politische Kraft demokratisch legitimiert worden. Die SPD erhielt damals 31,7 %, die USPD 11,9 %, die KPD aber nur 1,1 % der Stimmen (zusammen 44,7 %). Zur stärksten bürgerlichen Partei wurde damals die linksliberale DDP mit 18 %. Von einem »rotem Terror« in Coburg konnte damit keine Rede sein, obwohl es mit dem Ende des Ersten Weltkriegs selbst in dieser traditionell ruhigen Provinzstadt zu Spannungen gekommen war. Dass darunter eher die Linksparteien litten, verdeutlichen etwa die Ereignisse des 3. 9. 1921, des »Blutsonnabends von Coburg«. Nach der Ermordung von Matthias Erzberger am 26. 8. 1921 demonstrierten zwischen 2.500 und 3.000 Menschen in Coburg. Durch das ungeschickte Verhalten der Landespolizei eskalierte die Situation, sodass 20 Demonstranten verletzt wurden, einer von ihnen tödlich.

Vgl. Statistik des Deutschen Reichs, Bd. 291, III, S. 122 f.; Erdmann, Coburg, S. 72 – 77, 80 – 86.

247 Hitler verschweigt die Schlichtungsverhandlungen am Abend des 14. 10. 1922 unter der Leitung des Coburger Stadtkommissars, Oberregierungsrat Ernst Fritsch. Hierzu trafen sich Vertreter der Völkischen, der Linksparteien, der Polizei und der Stadtverwaltung. Einige Linkspolitiker sicherten zu, ihre Anhänger beruhigen zu wollen, andere verwiesen darauf, dass sich für eine Kundgebung am Sonntag bereits auswärtige Demonstranten angemeldet hätten. Die Völkischen machten die Zusage, von einem Zug zur Veste Coburg abzusehen. Hitler kümmerte sich weder um dieses Versprechen, noch um die Bitte Fritschs, der ursprünglich auch Hitler zu diesen Verhandlungen eingeladen hatte.

Vgl. Russisches Kriegsarchiv Moskau (RGWA), fond 1355k, opis’, 1, delo 38, Privatkanzlei Adolf Hitler: Bezirksamt Coburg, Schreiben an das Regierungspräsidium von Oberfranken vom 16. 10. 1922; Erdmann, Coburg, S. 101 f.

249 Die Parallelen zwischen dem Vorgehen der SA und dem der italienischen Squadren sind im Fall Coburgs evident. Zwischen 1919 und 1922 bereiteten die faschistischen Kampfverbände durch ihre Taktik ebenso überraschender wie brutaler Überfälle auf ausgewählte Städte und Regionen ihre Machtübernahme in Italien vor. Diese Besetzungen wurden begleitet von Schlägereien, öffentlichen Demütigungen, »Verhaftungen« und »Verhören«, aber auch Attentaten oder Morden. Verantwortlich für den Erfolg dieser Gewaltstrategie waren nicht nur Schwäche und Fehler ihrer politischen Gegner wie des italienischen Staates überhaupt, sondern auch die Fähigkeit der faschistischen Wehrverbände, ihr Potenzial schnell und unerwartet auf ausgewählte regionale Ziele zu konzentrieren. Ihre Offensiven, die während der Jahre 1919 – 1922 etwa 3.000 bis 4.000 Menschen das Leben kosteten (bei rund 600 Mann an eigenen Verlusten), waren damals freilich deutlich brutaler als die der Nationalsozialisten. Ob sich diese bewusst am italienischen Vorbild orientierten, ist indes eine offene Frage.

Vgl. Engelmann, Provinzfaschismus; Reichardt, Kampfbünde; Woller, Geschichte, S. 90 f. Zum Vorbildcharakter der italienischen Faschisten für die frühe NSDAP vgl. Kap. II/13, Anm. 174.

war der rote Terror, unter dem Koburg schon seit Jahren geschmachtet#1929: geschmachtet ersetzt durch: gelitten hatte245, niedergebrochen.

Mit echt marxistisch-jüdischer246 Verlogenheit versuchte man nun durch Handzettel die »Genossen und Genossinnen des internationalen Proletariats« noch einmal auf die Straße zu hetzen, indem man, unter vollständiger Verdrehung der Tatsachen, behauptete, daß unsere »Mordbanden« den »Ausrottungskrieg gegen friedliche Arbeiter« in Koburg begonnen hätten.247 Um halb zwei Uhr sollte die große »Volksdemonstration«, zu der man Zehntausende von Arbeitern aus der ganzen Umgebung erhoffte, stattfinden.248 Ich ließ deshalb, fest entschlossen, den roten Terror endgültig zu erledigen, um zwölf Uhr die S. A.#1937: S. A. ersetzt durch: SA. antreten, die unterdes auf fast eineinhalbtausend Mann angeschwollen war, und setzte mich mit ihr in Marsch zur Feste Koburg, über den großen Platz, auf dem die rote Demonstration stattfinden sollte. Ich wollte sehen, ob sie#1930: eingefügt: es noch einmal wagen würden, uns zu belästigen. Als wir den Platz betraten, waren anstatt der angekündigten Zehntausend#1937: Zehntausend ersetzt durch: Zehntausende nur wenige Hundert anwesend, die bei unserem Nahen sich im allgemeinen still verhielten, teilweise ausrissen. Nur an einigen Stellen versuchten rote Trupps, die unterdes#1930: unterdes ersetzt durch: unterdessen von außen#1944: außen ersetzt durch: auswärts
1929: wieder ersetzt durch: uns wieder gekommen waren und uns noch nicht kannten, wieder# anzustänkern; aber im Handumdrehen wurde ihnen gründlich die Lust dazu genommen. Und nun konnte man sehen, wie die bisher ängstlich eingeschüchterte Bevölkerung langsam aufwachte, Mut bekam, durch Zurufe und Winken#1930: gestrichen: und Winken uns zu begrüßen wagte und abends bei unserem Abzug an vielen Stellen in spontanen Jubel ausbrach.249

Plötzlich erklärte uns am#1944: am ersetzt durch: auf dem Bahnhof das Eisenbahnpersonal, daß es den Zug nicht fahren würde. Ich ließ darauf einigen Rädelsführern mitteilen, daß ich in diesem Falle zusammenzufangen gedächte#1939: gedächte ersetzt durch: dächte;
1944: gedächte, was mir an roten Bonzen in die Hände fiele, und daß wir dann eben selbst fahren würden, allerdings auf Lokomotive und Tender250 und in jedem Wagen ein paar Dutzend von Brüdern der internationalen Solidarität mitzunehmen vorhätten. Ich versäumte auch nicht, die Herren#1939: eingefügt: darauf aufmerksam zu machen, daß die Fahrt mit unseren eigenen Kräften selbstverständlich ein unendlich riskantes Unternehmen sein würde und es nicht ausgeschlossen wäre, daß wir