Der »gescheite« Jude <span class="pagenumber">[318]</span>

86 Die Vorstellung, Juden seien überdurchschnittlich intelligent, zugleich aber verschlagen und hinterlistig, war ein Klischee, das schon lange existierte. Im 19. Jahrhundert wurde es allerdings zunehmend rassistisch aufgeladen. Nicht nur in antisemitischen Pamphleten wie etwa in jenem Hartwig von Hundt-Radowskys, auch in einem populären Roman wie Der Hungerpastor (1864) von Wilhelm Raabe erschien die vermeintlich überlegene jüdische Intelligenz als Waffe und Mittel zur Rache gegen eine judenfeindliche Umwelt. Mit der Betonung der großen intellektuellen Fähigkeiten verband sich eine moralische Abwertung der Juden. So schrieb Ottomar Beta der »semitischen Race« unter anderem folgende Eigenschaften zu: Schlauheit, Habsucht, Grausamkeit und Fanatismus. Demgegenüber sei bei der »germanischen Race«, zu der Beta auch Slawen, Angelsachsen und Romanen zählte, »die Anschaulichkeit, die Naturerkenntniß und die Pietät gegen Gottes Werke größer«. Houston Stewart Chamberlain charakterisierte in Die Grundlagen des neunzehnten Jahrhunderts, die Juden als ein kluges Volk; demgegenüber sei Scharfsinn nie eine Stärke der Deutschen bzw. der »Teutonen« gewesen. Im Zuge der Affäre um den in Frankreich zu Unrecht verurteilten jüdischen Offizier Alfred Dreyfus (1898) formierten sich zahlreiche kritische, politisch engagierte Intellektuelle zum Kampf gegen den französischen Antisemitismus. Ihre Gegner verwendeten den Ausdruck »Intellektuelle« fortan als Schimpfwort und verknüpften dabei die Begriffe »jüdisch« und »intellektuell«. Viele Biologen gingen um 1900 von einer Vererbbarkeit geistiger Begabung aus. Deshalb galt die vermeintlich überdurchschnittliche jüdische Intelligenz zumindest teilweise als angeboren – eine These, die auch jüdische Forscher vertraten, etwa der österreichische Mediziner Ignaz Zollschan. Begründet wurde die Vorstellung von der besonders hohen jüdischen Intelligenz auch mit der jahrtausendelangen Judenverfolgung. Obwohl andere Studien zu dem Schluss kamen, Juden seien nicht überdurchschnittlich intelligent, hielt sich das Bild des »schlauen« Juden. Noch 1936 schrieb Fritz Lenz: »Aber daß die Juden im Durchschnitt intellektuell begabter sind als der Durchschnitt der deutschen Bevölkerung, läßt sich meines Erachtens nicht bestreiten; sind sie doch seit Jahrtausenden gerade darauf gezüchtet.«

Vgl. Beta, Darwin, Zitat S. 11; Chamberlain, Grundlagen, Bd. 1, S. 198, 200; Bd. 2, S. 992 f.; Baur/ Fischer/ Lenz, Erblichkeitslehre (⁴1932 – 1936), Bd. 1, Zitat S. 750; Bering, Intellektuellen, S. 39 – 52, 117 – 124, 144 – 147; Gelber, Wandlungen; Gilman, Juden, S. 55 ff.; Hart, Science, S. 179; Stark, Intellektuellen, S. 55 – 64; Lipphardt, Biologie, S. 252 – 258; Fasel, Revolte, S. 127 – 217.

87 Ähnlich schrieb Paul Bang in seiner Hetzschrift Judas Schuldbuch (1919): »Juda, das selbst keine Kultur besitzt«, habe »nur von der Kultur der andern« gelebt. Der Vorwurf der Kulturlosigkeit ist schon deshalb absurd, weil das jüdische Volk bereits im alten Orient mit dem Pentateuch und dem Buch Josua nicht nur bedeutende Schriftzeugnisse hervorbrachte, sondern mit dem Althebräischen auch eines der ältesten Alphabete der Welt besaß. Die erste außerbiblische Erwähnung des Namens »Israel« findet sich auf einer ägyptischen Siegesstele (»Israelstele«), die der ägyptische Pharao Merenptah um 1208 v. Chr. errichten ließ, um sich seiner Siege über verschiedene Völker zu rühmen, darunter auch über das Volk »Israel«. Das Königreich Israel unter David, der um 1000 v. Chr. regierte, ist durch die biblische Überlieferung bekannt geworden. Außerbiblische Quellen deuten ab dem 9. Jahrhundert auf ein starkes Nordreich hin, das 722 v. Chr. durch die Assyrer unterworfen und seiner Souveränität beraubt wurde. Das Südreich Juda blieb hingegen zunächst bestehen und entwickelte sich um 700 v. Chr. zu einem bedeutenden kulturellen Zentrum, ehe es 586 v. Chr. von den Babyloniern unterworfen wurde.

Vgl. Meister, Schuldbuch (^3/41919), Zitat S. 34; Malamat, Ursprünge, S. 13, 31, 35 – 37, 119; Brenner, Geschichte (2012), S. 22 – 25.

88 Da sich die Juden bis zur Gründung eines eigenen Staates immer in der Diaspora aufhielten, ist es selbstverständlich, dass sie sich der Kultur ihrer jeweiligen Heimatländer anpassten und nicht umgekehrt. Dies spricht gerade für ihre Integrationsbereitschaft. Bis zum Beginn der Aufklärung waren die Hauptinteressen jüdischen Denkens auf die Religion und auf die sozialen Strukturen innerhalb der jüdischen Gemeinden gerichtet. Gesellschaftliche Toleranz, wie im almohadischen Spanien des 12.  und 13. Jahrhunderts oder im Europa des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts, hatte dann eine verstärkte Auseinandersetzung mit nichtjüdischer Philosophie und Literatur zur Folge. Auch auf anderen Gebieten leisteten jüdische Wissenschaftler Außergewöhnliches, erinnert sei etwa an den Psychologen und Kulturtheoretiker Sigmund Freud sowie an den Mediziner Paul Ehrlich, dem die Entwicklung der ersten medikamentösen Behandlung der Syphilis gelang. Der Philosoph Moses Mendelssohn, Begründer der jüdischen Aufklärung (Haskala), erhielt 1763 für sein Werk Abhandlungen über die Evidenz in metaphysischen Wissenschaften den ersten Preis der Preußischen Akademie der Wissenschaften. Mendelssohn plädierte unter anderem für die stärkere Eingliederung der Juden in das christlich geprägte Staatswesen. In der deutschen Literatur des 19. Jahrhunderts spielte Heinrich Heine eine sehr große, über seine Zeit weit hinausreichende Rolle. Genannt sei noch Albert Einstein, einer der bedeutendsten Naturwissenschaftler aller Zeiten.

Vgl. Grebing, Intellektuelle; Elon, Zeit, bes.S. 122; Schoeps, König; Halpern/ Richards/ Goodman, Freud; Tauber, Einstein; Kap. I/10, Anm. 98; Anm. 98 in diesem Kapitel.

Auch die# 1930: Auch die ersetzt durch: Die intellektuellen Eigenschaften# 1930: eingefügt: des Juden haben sich im Verlaufe# 1944: Verlaufe ersetzt durch: Verlauf der Jahrtausende geschult. Der Jude# 1930: Der Jude ersetzt durch: Er gilt heute als »gescheit« und war es in einem gewissen Sinne zu allen Zeiten.86 Allein sein Verstand ist nicht das Ergebnis einer eigenen# 1930: einer eigenen ersetzt durch: eigener Entwicklung, sondern fremden# 1930: fremden ersetzt durch: eines Anschauungsunterrichtes# 1930: eingefügt: durch Fremde . Denn auch# 1930: Denn auch ersetzt durch: Auch der menschliche Geist vermag nicht ohne Stufen zur Höhe emporzuklimmen; er braucht zu jedem Schritt nach vorwärts# 1930: vorwärts ersetzt durch: aufwärts das Fundament der Vergangenheit, und zwar in jenem umfassenden Sinne, wie# 1930: wie ersetzt durch: in dem es sich nur in der allgemeinen Kultur zu offenbaren vermag. Alles Denken wird# 1930: wird ersetzt durch: beruht nur zu einem# 1930: zu einem ersetzt durch: zum geringen Teile auf eigener Erkenntnis beruhen# 1930: gestrichen: beruhen , zum größten aber auf den Erfahrungen der vorherigen# 1930: vorherigen ersetzt durch: vorhergegangenen Zeit. Das allgemeine Kulturniveau versorgt den einzelnen Menschen, ohne daß dieser dies# 1926: daß dieser dies ersetzt durch: daß es dieser meistens beachtet, mit einer solchen Fülle von Vorkenntnissen, daß er nun# 1926: gestrichen: nun , so gerüstet, zu weiteren eigenen Schritten leichter ausholen# 1930: zu weiteren eigenen Schritten leichter ausholen ersetzt durch: leichter weitere eigene Schritte machen;
1944: leichter weiter eigene Schritte machen kann. Der junge Knabe zum Beispiel von heute# 1926: Der junge Knabe zum Beispiel von heute ersetzt durch: Der junge Knabe von heute zum Beispiel;
1930: Der Knabe von heute zum Beispiel wächst unter einer wahren Unmenge technischer Errungenschaften der letzten Jahrhunderte auf, so daß er vieles, das vor hundert Jahren noch den größten Geistern ein Rätsel war, als selbstverständlich gar nicht mehr beachtet, obwohl es jedoch für das Verfolgen# 1926: obwohl es jedoch für das Verfolgen ersetzt durch: obwohl es für ihn zum Verfolgen und Verstehen unserer Fortschritte auf diesem# 1930: diesem ersetzt durch: dem betreffenden Gebiete von ausschlaggebender Bedeutung für ihn# 1926: gestrichen: für ihn ist. Würde nun# 1926: gestrichen: nun selbst ein genialer Kopf aus den zwanziger Jahren des vorigen Jahrhunderts heute plötzlich sein Grab verlassen, so wäre sein auch nur geistiges Zurechtfinden in der jetzigen Zeit schwerer, als dies für einen mittelmäßigen# 1930: mittelmäßigen ersetzt durch: mittelmäßig begabten fünfzehnjährigen Knaben von heute der Fall ist. Denn ihm würde alle# 1930: alle ersetzt durch: all die unendliche Vorbildung fehlen, die der einzelne# 1930: einzelne ersetzt durch: Zeitgenosse von heute während seines Aufwachsens inmitten dieser# 1930: dieser ersetzt durch: der Erscheinungen der jeweiligen allgemeinen Kultur sozusagen unbewußt zu# 1930: zu ersetzt durch: in sich nimmt# 1930: nimmt ersetzt durch: aufnimmt .

Da nun der Jude (aus Gründen, die sich sofort ergeben werden) niemals im Besitze einer eigenen Kultur war, sind die Grundlagen seines geistigen Arbeitens immer von anderen gegeben worden.87 Sein Intellekt hat sich zu allen Zeiten an der ihn umgebenden Kulturwelt entwickelt.88

Niemals fand der umgekehrte Vorgang statt.