Die vier Wege deutscher Politik <span class="pagenumber">[144]</span>

74 Ungeachtet der Verurteilung empfängnisverhütender Methoden und Mittel durch Moraltheologen und Kleriker war die Praxis der Geburtenbeschränkung im 19. Jahrhundert in Mitteleuropa weitverbreitet. Je nach sozialem Stand variierte freilich die Wahl der Verhütungsmethode: War sowohl in Deutschland als auch in Frankreich »der Coitus interruptus das fast ausschließliche Mittel ländlicher Geburtenkontrolle«, so waren im Bürgertum, auf das sich Hitler hier vermutlich im Besonderen bezieht, auch moderne – freilich auch kostspielige – Verhütungsmittel wie »Kondom[e] und weibliche Pessare und Suppositorien« verbreitet. Zu erwerben waren Verhütungsmittel »gewöhnlich in Gummihandlungen, Drogerien, bei Friseuren, Bandagisten und in ähnlichen Geschäften«. Zugleich prosperierten seit der Jahrhundertwende in ganz Deutschland »diskrete« Versandbetriebe.

Vgl. Dienel, Kinderzahl, bes.S. 45 – 63, 102 – 116, Zitate S. 46, 54. 

75 Schon das Beispiel von Heinrich Claß, der 1912 die staatliche Enteignung von Boden und dessen Aufteilung unter deutschstämmigen Neusiedlern – gegen eine entsprechende Entschädigung – befürwortet hatte, zeigt, dass Hitlers Behauptung in dieser pauschalen Form zu kurz greift. Bereits im 19. Jahrhundert wurde die Vergesellschaftung von Boden immer wieder kontrovers diskutiert. Der in seinem Sozialprofil stark bürgerlich geprägte Bund deutscher Bodenreformer mit seinem Vorsitzenden Adolf Damaschke plädierte seit 1898 dafür, »das Enteignungsrecht der Gemeinden zu erweitern und die Grundbeleihungsinstitute zu verstaatlichen«. Die »kapitalistische Bodenspekulation« in Stadt und Land galt dem Bund »als der Kern aller Wohnungs- und vieler Sozialprobleme«. Nicht zuletzt aufgrund ihres mitunter sozialistisch anmutenden Charakters stießen die Forderungen des Bunds freilich auch auf Kritik. Breite Zustimmung fanden entsprechende Positionen vor allem nach 1918. Nicht zufällig räumte die Weimarer Reichsverfassung in Artikel 155 dem Staat das Recht auf Enteignungen ein: »Grundbesitz, dessen Erwerb zur Befriedigung des Wohnungsbedürfnisses, zur Förderung der Siedlung und Urbarmachung oder zur Hebung der Landwirtschaft nötig ist, kann enteignet werden.«

Vgl. RGBl. 1919/II, Zitat S. 1413; Nipperdey, Geschichte 1866 – 1918, Bd. 1, Zitat S. 150; Meyer-Renschhausen/ Berger, Bodenreform, bes.S. 270 – 276; Geyer, Welt, S. 305; Schimek, Anspruch, S. 96 – 99, Zitat S. 97; Hugler, Damaschke; Anm. 52 in diesem Kapitel.

76 In dieser Äußerung spiegelt sich auch ein Stück Parteigeschichte: Punkt 17 des »25-Punkte-Programms« vom 24. 2. 1920 lautete: »Wir fordern eine unseren nationalen Bedürfnissen angepaßte Bodenreform, Schaffung eines Gesetzes zur unentgeltlichen Enteignung von Boden für gemeinnützige Zwecke. Abschaffung des Bodenzinses und Verhinderung jeder Bodenspekulation.« Und Alfred Rosenberg betonte 1923: »Es muß Grundsatz eines völkischen Staates werden, daß der Boden nicht eine Ware bleiben darf, mit welcher der Mensch nach Belieben spekuliert.« Zwar solle der »heutige Bodenbesitzer […] ein vom Staat anerkannter Eigentümer seines Grund und Bodens« bleiben, doch könne es »sich für den Staat als notwendig erweisen, für gemeinnützige Zwecke […] Boden zu enteignen«, »gegebenenfalls auch unentgeltlich«.

Formulierungen dieser Art rückten die NSDAP in die Nähe sozialistischer Forderungen, wie sie der linke Parteiflügel um Otto und Gregor Straßer vertrat. Auf der Bamberger Führertagung im Februar 1926 gelang es Hitler, dessen Vertreter zu entmachten und seinen Anspruch auf Alleinvertretung durchzusetzen. Dessen ungeachtet verunsicherte die Formulierung des Parteiprogramms weiterhin die besitzenden Schichten, sodass sich Hitler gezwungen sah, sich im Namen der NSDAP zum Privateigentum zu bekennen. Am 13. 4. 1928 verwahrte er sich in einer öffentlichen Erklärung gegen die angeblich »verlogenen Auslegungen des Punktes 17 des Programms der N.S.D.A.P. von seiten unserer Gegner« und betonte: »Da die N.S.D.A.P. auf dem Boden des Privateigentums steht, ergibt sich von selbst, daß der Passus ›Unentgeltliche Enteignung‹ nur auf die Schaffung gesetzl[icher] Möglichkeiten Bezug hat, Boden, der auf unrechtmäßige Weise erworben wurde oder nicht nach den Gesichtspunkten des Volkswohls verwaltet wird, wenn nötig zu enteignen. Dies richtet sich demgemäß in erster Linie gegen die jüdischen Grundspekulations-Gesellschaften.«

Vgl. Hitler, Reden, Bd. II/2, Dok. 254, Zitat S. 771 f.; Rosenberg, Wesen, Zitat S. 33 f. (Herv. i. Orig.); Mommsen (Hrsg.), Parteiprogramme, Zitat S. 549; Kap. II/11, Anm. 101.

Tatsächlich wurden auch diese# 1930: diese ersetzt durch: die beiden ersten Möglichkeiten zur Schaffung eines Ausgleiches# 1939: Ausgleiches ersetzt durch: Ausgleichs;
1944: Ausgleiches zwischen der steigenden Volkszahl und dem gleichgroß# 1937: gleichgroß ersetzt durch: gleich groß;
1939: gleichgroß bleibenden Boden in den sogenannten nationalen Kreisen des Reiches abgelehnt. Die Gründe zu dieser Stellungnahme waren freilich andere als die oben angeführten: Zur Einschränkung der Geburten verhielt man sich in erster Linie ablehnend aus einem gewissen moralischen Gefühl heraus74; die innere Kolonisation wies man mit Entrüstung zurück, da man in ihr einen Angriff gegen den Großgrundbesitz witterte und darin den Beginn eines allgemeinen Kampfes gegen das Privateigentum überhaupt sah.75 Bei der Form, in der besonders diese letztere Heilslehre auch# 1926: gestrichen: auch empfohlen wurde, konnte man auch ohne weiteres zu# 1926: zu ersetzt durch: mit einer solchen Annahme recht haben.76

Im allgemeinen war damit aber die# 1926: war damit aber die ersetzt durch: war damit die;
1930: war die Abwehr der breiten Masse gegenüber nicht sehr geschickt und traf auch in keinerlei Weise den Kern des Problems.

Somit blieben nun# 1926: nun ersetzt durch: nur noch zwei Wege, der steigenden Volkszahl Arbeit und Brot zu sichern.

3.  Man konnte entweder neuen Boden erwerben, um die überschüssigen Millionen jährlich abzuschieben und so die Nation auch weiter auf der Grundlage einer Selbsternährung erhalten, oder man ging

4.  dazu über, durch Industrie und Handel für fremden Bedarf zu schaffen, um vom Erlös das Leben zu bestreiten.

Also: entweder Boden- oder Kolonial- und Handelspolitik.

Beide Wege wurden von verschiedenen Richtungen ins Auge gefaßt, geprüft, empfohlen und bekämpft, bis endlich der zweite endgültig zur Ausführung kam# 1930: zweite endgültig zur Ausführung kam ersetzt durch: letzte endgültig gegangen wurde .77

Der gesündere Weg von beiden wäre freilich der erste# 1930: erste ersetzt durch: erstere gewesen.

Die Erwerbung von neuem Grund und Boden zur Ansiedelung# 1937: Ansiedelung ersetzt durch: Ansiedlung;
1944: Ansiedelung der überlaufenden Volkszahl besitzt unendlich viele# 1944: viele ersetzt durch: viel Vorzüge, besonders wenn man von der Gegenwart hinweg sich der Zukunft zuwendet# 1930: wenn man von der Gegenwart hinweg sich der Zukunft zuwendet ersetzt durch: wenn man nicht die Gegenwart, sondern die Zukunft ins Auge faßt .

Schon die Möglichkeit der Erhaltung eines gesunden Bauernstandes als Fundament der gesamten Nation kann niemals hoch