11. Kapitel
Volk und Rasse

Dieses Kapitel zählt zu den bekanntesten und verbreitetsten Teilen von Mein Kampf. Im August 1936 erschienen mit der Broschüre Volk und Rasse Auszüge als eigenständige Publikation, ergänzt durch Abschnitte aus dem Kapitel Der Staat (II/2). 1 Wenngleich Auszüge und Spruchsammlungen aus Mein Kampf bis Mitte der 1930er Jahre durchaus verbreitet und populär waren, so waren solch umfangreiche Teildrucke ungewöhnlich.2 Die Broschüre diente in Schulen als Ersatz zur Gesamtausgabe von Mein Kampf, zumal das Buch selbst bis Ende der 1930er Jahre nicht obligatorisch für Schulbüchereien war. 3 Auch wurde das Kapitel Volk und Rasse nach dem Erscheinen von Mein Kampf stilistisch besonders intensiv überarbeitet. 4

Die Entstehungsgeschichte des Kapitels ist komplex; es setzt sich aus drei unterschiedlichen Teilen zusammen: Der erste Teil enthält jene Abschnitte, für die sich vier Konzeptblätter aus der Zeit Ende Mai/Anfang Juni 1924 erhalten haben. Sie decken das Kapitel bis zum Abschnitt »Arier und Jude« ab. Die Ausarbeitung dieses Teils erfolgte dann allerdings erst, nachdem Hitler im Juli 1924 den Begriff »Lebensraum« kennengelernt hatte; in den entsprechenden Passagen des Konzepts fehlt dieser noch.5 Sonst aber hielt sich Hitler bis zum Abschnitt »Rasse und Kultur« konsequent an sein Konzept, in dem er entgegen seinen Gepflogenheiten bereits ganze Absätze ausformuliert hatte, die er dann fast unverändert in seine Darstellung übernahm. 6 Offenbar zwang die Dogmatik dieses Themas Hitler zu einem erheblich strukturierteren Arbeiten, als das sonst der Fall war. Bei den folgenden Abschnitten über den »Arier als Kulturbegründer« und die »Ursachen der Bedeutung des Ariers« ist dies anders. Hier handelte es sich um Themen, mit denen sich Hitler bereits früher in Reden und Texten beschäftigt hatte.7 Wie in anderen Kapiteln auch, erweiterte und ergänzte er die knappen Ausführungen der Konzeptblätter erst bei seiner endgültigen Niederschrift.8

Mit den Abschnitten über »Arier und Jude« beginnt der zweite Teil des Kapitels, der sich wesentlich intensiver mit dem Judentum auseinandersetzt. Dieser Teil kann ebenfalls frühestens Anfang Juli 1924 entstanden sein. Dafür spricht nicht nur die mehrmalige Verwendung des Begriffs »Lebensraum«, sondern auch ein Interview vom 29. Juli 1924, in dem Hitler behauptete, er wäre in der »Kampfweise gegen das Judentum« bisher zu milde gewesen. Die Arbeit an seinem Buch habe ihm jedoch klar gemacht, »dass in Hinkunft die schärfsten Kampfmittel angewendet werden müssen«.9 Diese »Verschärfung« hinterließ im zweiten Teil des Kapitels Spuren, etwa wenn Hitler die Juden den Tieren gleichstellt und von ihrem »Herdentrieb« spricht. Mit der bisherigen, angeblich zu großen »Milde« verweist Hitler auf den dritten und längsten Teil des Kapitels über den »Werdegang der Juden«10 (S. 326 – 334), der wesentlich älter ist. Vermutlich entstand er bereits 1922 oder 1923. Dafür sprechen die ungewöhnliche Struktur des Texts, das Fehlen des in den anderen Abschnitten verwendeten Begriffs »Lebensraum«11 und die Kopfzeilen in den Konzeptblättern.12 Die letzten Seiten dieses Kapitels, eine Art Zusammenfassung, sind wohl am spätesten entstanden. Suggeriert Hitler mit dem Aufbau des Kapitels, sein Antisemitismus sei logische Folge eines rassistischen Verständnisses der Welt, so verweist die Entstehungsgeschichte auf eine genau umgekehrte Entwicklung. Insgesamt ist das Kapitel Volk und Rasse der Versuch einer übergreifenden Begründung von Hitlers rassistischer Ideologie – ähnlich wie Hitler im Kapitel I/10 sein politisches Weltbild zu begründen versucht. In beiden Kapiteln fehlen daher parteigeschichtliche wie auch biografische Elemente.

Schon früh galt Volk und Rasse als eines der zentralen Kapitel von Mein Kampf.13 Umso erstaunlicher und bezeichnender ist, dass Hitler gerade hier argumentativ recht unsicher wirkt. So meinte Kurt Caro bereits 1936, Hitler würde in den Rassen-Kapiteln »seine Gedanken noch unklarer und verschwommener ausdrück[en] als sonst«; ihm fehle jede geistige Präzision.14 Auch der Schriftsteller Ruben Blank schrieb 1938, in Mein Kampf gebe es keinerlei Hinweise darauf, dass Hitler das Judentum studiert habe.15 Und der Philosoph Kurt Hildebrandt erklärte 1965, er habe Anfang der 1930er Jahre Mein Kampf gelesen und sei über Hitlers rassentheoretischen Dilettantismus verblüfft gewesen.16 Auch auf den heutigen Leser wirkt Volk und Rasse – von der gedanklichen Dürftigkeit und moralischen Inferiorität ganz abgesehen – besonders redundant und wenig stringent.